Skrupelloser Umgang der SED mit Oppositionellen

Terror gegen Andersdenkende

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Aktenfunde belegen immer deutlicher, wie skrupellos die SED mit Oppositionellen umging. Selbst vor Mord schreckten die offiziellen Staatsvertreter nicht zurück. Dennoch konnten sie den 9. November 1989 nicht verhindern.

Ein Polizist steht mit Kamera bei einer Demonstration, um potenzielle Staatsfeinde zu fotografieren.    Foto: imago images/Rolf Zöllner

 

Das Jahr 1976: Es gilt unter Historikern als Schlüsseljahr im Niedergang der DDR. 1976 verfügte Honecker die Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann, bevor sich wenige Monate später der oppositionelle Pastor Oskar Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz vor aller Augen das Leben nahm, aus Protest gegen die „Unterdrückung von Kindern und Jugendlichen“ an Schulen der DDR. Beide Ereignisse lösten eine Protestwelle aus, die bis zum Herbst 1989 nicht mehr abebbte. „Die Flammen loderten weiter“, so kommentierte eine deutsche Wochenzeitung dreißig Jahre später das Geschehen in der sachsen-anhaltinischen Provinz. Erst 2006 entschuldigte sich das frühere SED-Parteiorgan Neues Deutschland (ND), indem es nachträglich kritische Leserbriefe aus der Zeit nach dem Tode Brüsewitz’ veröffentlichte.

Wechsel von offener zu subtiler Gewalt
SED-Generalsekretär Erich Honecker stand 1976 nach seiner Ernennung zum Staatsratsvorsitzenden im Zenit der Macht, von wo es aber nur noch bergab ging, auch wenn die subjektive Wahrnehmung der Parteioberen damals eine andere gewesen sein dürfte. Doch nicht nur das. „1976 erließ Erich Mielke, Honeckers Minister für Staatssicherheit, die berüchtigte Richtlinie 1/76, die Opposition gegen den SED-Alleinherrschaftsanspruch schon im Keim ersticken sollte“, sagt Karsten Krampitz, Historiker und Buchautor, der sich in zahlreichen Publikationen mit dem „Krisenjahr“ 1976 beschäftigt hat. Schon damals zeichnete sich der unaufhaltsame Niedergang der DDR ab, gegen den sich die Genossen mit immer neuen, teils skurrilen Ideen zu stemmen versuchten. 1978 wurde beispielsweise ein ungenießbares Gebräu namens „Kaffee-Mix“ verbreitet, um den DDR-weiten Mangel an Rohkaffee zu kaschieren.
Um Einfallsreichtum war indes auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht verlegen. Gehörte physische Gewalt noch bis Ende der sechziger Jahre zum offen gezeigten Waffenarsenal, verlagerte das MfS seine Methoden mit der Richtlinie 1/76 zunehmend ins Verborgene, wobei an Autotüren anhaftende Gifte, fingierte Autounfälle und radioaktive Verstrahlungen gängige und wissenschaftlich erprobte Mittel im Kampf gegen Andersdenkende waren, wie die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier in ihrem neuen Buch eindrucksvoll belegt. Zuständig war der Operativ Technische Sektor (OTS), dessen Mitarbeiter in einem unscheinbaren Gebäude in Berlin-Hohenschönhausen saßen und der als Tüftelwerkstatt für alle größeren und kleineren Stasi-Sauereien fungierte. „Mit der Richtlinie 1/76 sollte der Terror des Geheimdienstes nicht mehr sichtbar durch Prügel und Tod erfolgen, sondern so, dass er nach außen nicht sichtbar wurde, Opfer unbemerkt blieben und die um internationale Anerkennung buhlende DDR ihr Gesicht wahren konnte“, sagt der Historiker Uwe Puschner von der FU Berlin.
Hinzu kamen Kreditbedarf und Geldnot, was den SED-Staat immer weiter verrotten ließ. Fehlinvestitionen häuften sich, was allein die zahlreichen Plattenbauten und Kombinatshallen belegen, die in den neuen Bundesländern, wie etwa im sächsischen Meerane, bis heute zurückgebaut werden. Mit Valutakrediten (Kredit in einer ausländischen Währung) finanzierte die SED in den siebziger Jahren ihr breit angelegtes Sozialprogramm „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, in der Hoffnung, sich damit die politische Loyalität der ostdeutschen Bevölkerung zu erkaufen. Wer das öffentlich kritisierte, lebte in der DDR gefährlich.

Gedenktafel am Ort der Selbstverbrennung des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz an der Michaeliskirche in Zeitz.    Foto: imago images/Dirk Sattler

 

Überraschender Anruf dank später Reue
Freya Klier selbst stand mit ihrem ehemaligen Ehemann Stephan Krawczyk viele Jahre selbst im Visier der DDR-Staatssicherheit und auf deren Mordliste. 2019 meldete sich ein ehemaliger Staatssicherheitsoffizier, der an Krebs im Endstadium litt, überraschend telefonisch bei ihr und bat sie für „das in der DDR an ihr begangene Unrecht um Vergebung“. Dabei erfuhr Klier, dass sie und Krawczyk tatsächlich vom MfS getötet werden sollten, was sie bis dahin nur ahnte. Das Gespräch mit dem früheren Stasioffizier habe sie mit dem Smartphone aufzeichnen können, schreibt Klier in ihrem Buch.
Sie hatte in der DDR Regie studiert und war nach einem gescheiterten Fluchtversuch über Rostock inhaftiert worden. Stephan Krawczyk war mit regimekritischen Liedern aufgefallen, wurde ebenfalls verhaftet und in die Bundesrepublik abgeschoben. Immerhin: Kliers Tochter Nadja, eine bekannte Fotografin und Filmemacherin, besuchte in West-Berlin das Gymnasium und legte dort ihr Abitur ab.
Als potenzielles Mordopfer der Staatssicherheit war Freya Klier bei weitem kein Einzelfall. Wer immer es in der DDR wagte, sich dem totalen Machtanspruch der SED entgegenzustellen, bekam es mit der Staatssicherheit zu tun, dem treuen Erfüllungsgehilfen der Partei, auch wenn Erich Honecker nach seinem Sturz gerne eine Trennlinie zwischen sich und den „Sicherheitsorganen“ zog. Das MfS sah sich in Tradition der sowjetischen Tscheka, der Geheimpolizei, die im Dezember 1917 von Feliks Dzierzynski im Auftrag Lenins nach der Oktoberrevolution gegründet worden war und sich zu einer einzigen Terrormaschinerie gegen An- dersdenkende entwickelte.
Noch in den achtziger Jahren schwärmte Erich Mielke über Feliks Dzierzynski, der als Namensgeber für sein Wachbataillon fungierte. In diesem dienten meist Zeitsoldaten, die im Herbst 1989 in Zivil auftraten und sich im Umgang mit den Demonstranten die Hände schmutzig machten; jugendliche Schläger in Blouson und Schnittkanthose, die aus dem Nichts auftauchten und Bürger abführten, die sie für Regimegegner hielten.
Doch die Regimegegner wurden zahlreicher. Schließlich waren es so viele, dass die rote Diktatur vor der Masse kapitulierte und am 9. November 1989 die Tore in den Westen öffnete.

Literaturempfehlung: Freya Klier, Unter mysteriösen Umständen. Die politischen Morde der Staatssicherheit, Herder Verlag, Freiburg 2021, ISBN 978-3-451-03306-3, 302 Seiten, 26 Euro

Von Benedikt Vallendar