Was heißt es, treu zum Glauben zu sein?
Treue und Fortschritt
„Wollt auch ihr gehen?“, fragt Jesus im Evangelium. „Wem wollt ihr dienen: dem Gott eurer Väter oder den Göttern der Amoriter?“, fragt Josua das Volk Israel. Treue oder Untreue – darauf läuft es hinaus. Und das gilt auch heute.
Was ist Treue zum Glauben? Darüber gibt es Streit in der Kirche. Und das ist auch verständlich, denn in den vergangenen fünfzig Jahren hat sich vieles geändert. Das ging nach dem Konzil mit der neuen Liturgie los und hört mit der Neubewertung der Homosexualität noch lange nicht auf.
Mangelnde Treue zum althergebrachten Glauben – das ist ein Vorwurf, den sich viele anhören müssen, auch Papst Franziskus. Auch wir in der Redaktion. Es gibt viele Fragen, an denen sich die Geister scheiden: die Segnung von homosexuellen Paaren, das Priesteramt für Frauen, der Zölibat, die Kommunion für wiederverheiratet Geschiedene oder für evangelische Christen. Ist das Anpassung an den Zeitgeist statt Treue zum Wort Gottes und zur kirchlichen Tradition?
Soll man sich nicht der Mehrheit anpassen?
Um Treue zum Wort Gottes und zur Tradition geht es auch Josua. Die Situation ist nicht einfach: Das Volk Israel – ein kleines Völkchen, sollte man besser sagen – ist nach der Sklaverei in Ägypten und jahrzehntelanger Wanderung ins verheißene gelobte Land gekommen. Aber in diesem Land leben schon Menschen, zum Beispiel die Amoriter. Sie werden als mächtiges Volk geschildert, „groß wie Zedern und stark wie Eichen“ (Amos 2,9). Ein mächtiges Volk – mit mächtigen Göttern. Da kommt schon die Frage auf, ob man sich als kleines Volk mit einem eher unbekannten Gott nicht doch der Mehrheit, vielleicht kann man auch sagen: den neuen Zeiten, anpassen soll.
Etwas anders ist die Situation bei Jesus. Gerade erst hat er Anhänger um sich versammelt, die das Besondere in ihm erkannt haben. Und dann kommt schon, jedenfalls bei Johannes, diese Brotrede, in der Jesus unverständliche Dinge sagt, zum Beispiel, dass sein Fleisch und sein Blut eine himmlische Speise sind, die man essen soll. Da kommt schon die Frage auf, ob man wirklich bei diesem kleinen merkwürdigen Grüppchen bleiben oder sich nicht doch der Mehrheitsmeinung anschließen soll. Kein Wunder also, dass viele „sich zurückzogen“, wie das Johannesevangelium erzählt.
Doch die Botschaft der biblischen Texte ist klar: Treue zu Gott, Treue zu Jesus. „Das sei uns fern, dass wir den Herrn verlassen und anderen Göttern dienen“, sagen die Israeliten. „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“, antwortet Petrus. Aber was heißt Treue? Was heißt es heute? Sind das wirklich die Alternativen: Treue zum Evangelium oder Anpassung an den Zeitgeist, wie manche meinen? Gibt es etwas dazwischen? Oder ist das Dazwischen nur ein bemühter Versuch, die eigene Untreue schönzureden?
Freiheitsrechte? Eine absurde Idee!
Noch im 19. Jahrhundert war die Antwort klar: Es gibt keinen Mittelweg; Treue heißt: Alles bleibt so, wie es immer war. Damals kamen nämlich ganz moderne Ideen auf, ganz radikale. Demokratie zum Beispiel, Meinungs- und Gewissensfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit. Das sei alles vom Teufel, meinte die Kirche. So verlangte Papst Gregor XVI. in seiner Enzyklika „Mirari vos“ (1832) „unerschütterliche Treue gegenüber den Fürsten“ und verurteilte Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheit als „absurde Freiheitsrechte“, die im Widerspruch stünden zu den Forderungen Gottes und der Kirche. Nicht das Volk sei von Gott ausersehen zu bestimmen, sondern der König. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, sagt Jesus im Evangelium. Daran sei nicht zu rütteln. Auch sei nicht die freie Rede gottgewollt, sondern die Verkündigung der Wahrheit. Alles andere sei falsche Anpassung an den Zeitgeist. Bis ins 20. Jahrhundert hinein versuchte die Kirche deshalb unter Berufung auf die Treue zum Gotteswort und zur Tradition, moderne Freiheitsrechte zu unterdrücken.
Das ist alles lange her, sicher. Aber es zeigt: Es gibt nicht nur Treue zum Althergebrachten, es gibt auch Fortschritte im Glauben, Fortschritte, die wir heute für selbstverständlich halten. Und das nicht zuletzt deshalb, weil sowohl die Erkenntnisse weltlicher Wissenschaften wie gesellschaftliche Entwicklungen nicht nur böser Zeitgeist waren, sondern – im Nachhinein betrachtet – positive Zeichen der Zeit, die die Kirche nach und nach anerkannte und in ihre Lehre übernahm. Dass Demokratie eine bessere Form der Staatsführung ist als die Monarchie, würde heute kaum ein Katholik mehr bestreiten. Und dass Frauen – zumindest in weltlichen Dingen – gleichberechtigt sind, bestätigt auch die Kirche. Oft brauchte sie Jahrzehnte, um den Geist Gottes hinter dem Zeitgeist zu entdecken. Gut Ding braucht Weile. Dass die jahrhundertelang ganz selbstverständlich anerkannte, verteidigte und selbst ausgeübte Todesstrafe inzwischen verurteilt und der Katechismus deshalb gerade geändert wurde, ist dafür nur ein Beispiel von vielen.
Vielleicht zeigt sich die Treue zum Glauben ja gerade im Fortschritt des Glaubens. Jesus jedenfalls hat seine religiösen Reformen etwa in der Sabbatruhe („Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“) oder in den Reinheitsvorschriften („Nichts, was von außen in den Menschen hinein kommt, macht ihn unrein“) durchaus als Treue zu seiner religiösen Tradition, der Tora, verstanden. Weil Treue heißt, nach dem Sinn der Sache zu suchen, nicht nach erstarrten Regeln. Auch wenn viele fromme Zeitgenossen Jesu das anders sahen.
Der Gott der Bibel und die anderen Götter
Klar ist aber auch: Es gibt Grenzen des Fortschritts im Glauben. „Das sei uns fern, dass wir den Herrn verlassen und anderen Göttern dienen“, sagten die Israeliten. Der Gott des Geldes, der Gott des Bauchs, der Gott der Zügellosigkeit können keine Alternative zum Gott der Bibel sein, der Hass keine Alternative zur Vergebung, der Egoismus keine Alternative zur Nächstenliebe.
„Wollt auch ihr gehen?“, fragt Jesus. Nein, wollen wir nicht. „Du hast Worte ewigen Lebens.“ Und doch bleibt es beständige Aufgabe, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt. Nur so könne die Kirche „in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben“. Treue und Fortschritt – beides gehört zusammen. Auch im Glauben.
Von Susanne Haverkamp