Interview mit Ursula Nothelle-Wildfeuer
"Unsere Freiheit können wir nur gemeinsam bewahren"
Ob Corona, Erderhitzung oder Energieknappheit – in allen Krisen wird über die Frage diskutiert: Wie sehr muss jeder Mensch seine Freiheit einschränken, um zur Lösung des Problems beizutragen? Die Sozialethikerin Ursula Nothelle-Wildfeuer erklärt, wie Kirche und Christen die Debatte bereichern können – und wo Freiheit für sie beginnt und endet.
Es wird in letzter Zeit in Deutschland viel über Freiheit diskutiert. Wie nehmen Sie diese Debatten wahr?
Ich sehe da ein seltsames Phänomen: Freiheit ist in aller Munde, aber der Freiheitsbegriff, der gebraucht wird, ist oft massiv verkürzt. Manchen geht es nur um Freiheit für sie selbst.
Wem zum Beispiel?
Wir haben diese Haltung in der Corona-Zeit bei den selbsternannten Querdenkern gesehen. Sie haben gesagt: „Ich will mich nicht gängeln lassen vom Staat. Meine Freiheit wird durch Vorschriften und Gesetze bedroht. Das lasse ich mir nicht gefallen.“ In diesem Verständnis meint Freiheit nur Beliebigkeit, nach dem Motto: Ich suche mir aus, welche Gesetze ich annehmen will – und alles andere akzeptiere ich nicht. Ein so simples Freiheitsverständnis funktioniert in einer komplexen Gesellschaft, wie wir sie haben, aber nicht.
Warum nicht?
Zur Freiheit gehört immer auch Verantwortung – für all die anderen Menschen, mit denen ich mein Leben teile. Wenn die Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen, nicht mehr da ist, besteht unsere Gesellschaft aus lauter Einzelmenschen, die nur noch auf sich schauen – und es ist eben nicht so, dass dann auf alle geschaut ist. Es kann nicht nur um eine Freiheit von etwas gehen, von Regeln, Zwängen, Beschränkungen – sondern auch um eine Freiheit zu etwas, also die Freiheit, verantwortungsvoll über sein Leben zu bestimmen und sich mit seinen Fähigkeiten zu entfalten. Beides ist wichtig.
Wie erklären Sie sich, dass manche Menschen einen verkürzten Freiheitsbegriff haben?
In unserer Gesellschaft wird sehr betont, dass das Individuum im Mittelpunkt steht und alle Rechte hat – und dass der Staat den Freiraum zu schaffen hat für das, was das Individuum darf und will. Die Übernahme von Verantwortung und Solidarität ist stark auf Institutionen übergegangen. Dadurch ist das Bewusstsein zurückgegangen, wie wichtig individuelle Verantwortung und Solidarität sind.
Glauben manche: Der Staat wird sich schon kümmern, ich muss das nicht tun?
Genau. Das ist der eine Grund für den verkürzten Freiheitsbegriff, den manche haben. Der andere ist: Die großen gesellschaftlichen Probleme, die zurzeit diskutiert werden, sind sehr komplex – und diese Komplexität überfordert manche Menschen.
Wie meinen Sie das?
Erinnern Sie sich nur an die ersten Monate der Corona-Pandemie im Jahr 2020. Solange sie das Virus selbst nicht gehabt haben und in ihrem Umfeld noch niemand gestorben ist, war die Bedrohung für manche Menschen nicht greifbar. Sie wollten deshalb nicht wahrhaben, dass es sinnvoll ist, ihre Freiheit wegen dieses Virus einzuschränken. Beim Thema Klimakrise wird das Problem noch viel deutlicher.
Inwiefern?
Wir haben in Deutschland im vergangenen Sommer zwar Hitze und Trockenheit gespürt und vertrocknete Landschaften gesehen, aber das Problem geht uns noch nicht an die Substanz. Das kann sich zwar schneller ändern, als wir denken. Aber noch ist die Erderhitzung nicht so schlimm, dass wir uns hier in Deutschland davon zwingend bedroht fühlen. Die Klimakrise ist für manche Menschen noch immer abstrakt und weit weg – und damit undurchschaubar. Hinzu kommt: Es gibt für dieses Problem wie für alle großen Probleme heutzutage nicht die eine einfache Lösung, die auf einen Schlag alles beseitigt, was es an Fragen gegeben hat. Es ist immer alles kompliziert. Auch davon fühlen sich manche Menschen überfordert.
Und weil sie sich überfordert fühlen und sich nicht anders zu helfen wissen, beharren sie lautstark auf ihrer persönlichen Freiheit?
Absolut, ja. Da entsteht dann der Gedanke: Meine persönliche Freiheitsvorstellung will ich autoritär durchsetzen. Etwas anderes akzeptiere ich nicht.
Die Grundfrage ist in allen Krisen dieselbe: Wie sehr bin ich bereit, meine Freiheit einzuschränken, um zur Lösung eines Problems beizutragen? Bei Corona ging es um Masketragen und Abstandhalten. In der Energiekrise geht es darum, weniger zu heizen. Beim Klimaschutz etwa darum, weniger zu fliegen, weniger Auto zu fahren, weniger Fleisch zu essen.
Das stimmt – und gleichzeitig weiß jeder Mensch: Das, was ich selbst tue, ist nur ein Mosaikstein im Ganzen. Das macht die Sache nochmal schwieriger und anspruchsvoller, und deswegen machen da eben beileibe nicht alle Menschen freiwillig mit. Wir wissen, dass unser individuelles Handeln wichtig ist – aber wir wissen auch, dass es allein nicht ausreicht, um die Klimakrise oder Corona in den Griff zu kriegen. Zur Bewältigung der Pandemie zum Beispiel haben wir die Forschung und ihre Impfstoffe gebraucht und gesetzliche Regelungen.
Wie viel individuelle Freiheit kann sein, wenn die Freiheit von anderen bedroht ist? Diese Frage stellt sich ja in der Pandemie wie in der Klimakrise.
Der klassische Satz, dass meine Freiheit dort endet, wo die Freiheit des anderen bedroht ist, der gilt natürlich auch da. Und wo das Leben von anderen bedroht ist, wie zu Anfangszeiten der Corona-Pandemie, da muss der Staat einschreiten. Wenn Appelle und Information nicht reichen, muss er die notwendigen Verhaltensweisen verordnen. Es gilt dann, die gesamte Gesellschaft im Blick zu haben. Natürlich darf die Freiheit des Einzelnen nicht ohne weiteres der Gesamtgesellschaft geopfert werden, das ist klar. Aber wenn es ein sehr wichtiges Gesamtziel gibt, dass nicht anders erreichbar ist, als dass alle sich auf Abstandhalten und Maske einlassen, dann geht es eben nicht anders.
Wie lässt sich in der Klimakrise konstruktiv umgehen mit Menschen, die auf ihrer individuellen Freiheit beharren und sagen: „Ich will weiterhin dreimal im Jahr in den Urlaub fliegen – das lasse ich mir nicht nehmen“?
Ich täte mich schwer damit zu sagen: Dreimal fliegen im Jahr geht gar nicht. Weil das ja immer ins Verhältnis gesetzt werden muss zu dem, wie dieser Mensch sein Leben sonst so gestaltet. Verbieten wird man extensives Fliegen ohnehin nicht können. Man wird es nur mit Anreizen beeinflussen können, dass die Menschen umdenken. Zum Beispiel mit einer CO2-Steuer, die Fliegen teurer machen würde. Klar, die Reichen, die einen Flug dann immer noch aus der Portokasse bezahlten können, wird das nicht stören. Aber viele werden eben doch ihr Verhalten ändern – und früher oder später erkennen, dass ein Ausgleich zu ihrem stressigen Alltag auch anders und klimafreundlicher aussehen kann, als Tausende Kilometer weit weg zu fliegen.
Sie haben vorhin gesagt, in unserer Gesellschaft werde die Freiheit des Individuums stark betont und die Verantwortung auf Institutionen, auf den Staat abgeladen. Ist das falsch?
Ich würde nicht sagen, dass es prinzipiell falsch ist, dass der Staat dem Einzelnen Formen der Solidarität abnimmt. An manchen Stellen ist in unserer Gesellschaft aber der Gemeinsinn verloren gegangen, also das Bewusstsein dafür, dass das Gemeinwohl nur durch alle gemeinsam erreicht werden kann.
Wie lässt sich dieser Gemeinsinn wieder stärken – auch bei Menschen, die sich durch Appelle an die Solidarität schnell bevormundet fühlen?
Das Gefühl, bevormundet zu werden, entsteht ja dadurch, dass man keine eigene Einsicht hat, dass diese Solidarität notwendig ist. Das macht die Sache in einer Demokratie hoch anspruchsvoll. Es kann ja hier keinen Befehl zu einem bestimmten Handeln geben. Natürlich kann es Gesetze geben, aber wenn viele deren Sinn nicht einsehen, werden sie sich kaum daran halten.
Wo sehen Sie in unserer Gesellschaft schon Gemeinsinn und Solidarität?
An vielen Orten. Zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe, 2015/16 bei der Aufnahme der Menschen aus Syrien und jetzt bei der Aufnahme der Menschen aus der Ukraine. Das alles hätte niemals gelingen können, wenn sich nicht sehr viele Bürgerinnen und Bürger sehr selbstlos engagiert hätten. Dieser Einsatz braucht noch mehr Anerkennung. Ich finde das wirklich wichtig: dass man nicht immer nur beklagt, wo ein egoistisches Verständnis von Freiheit alles zunichtemacht – sondern dass man auch hervorhebt, welche großartige Integrationsleistung da vollbracht worden ist und immer noch vollbracht wird. Für diese Leistung sind auch die Kirchen und die Gemeinden ganz wichtig.
Inwiefern?
Gläubige aus Kirchengemeinden sind vielfach durch christliche Werte geprägt. Sie nehmen sensibel wahr, wo Hilfe notwendig ist, und schauen nicht auf eigene Vorteile. Es gibt auch viele christliche Vereine und Verbände, die ehrenamtlich Wahnsinniges leisten. Das anzuerkennen, ist wichtig. Wenn Initiativen für ihr solidarisches Engagement mit einem Preis ausgezeichnet werden, spricht sich schneller herum, wie wichtig diese Solidarität für unser aller Freiheit ist. Letztlich kann ich nur dann frei sein, wenn der andere auch eine Chance hat, frei zu sein – und wenn er die gleichen Rechte und Möglichkeiten hat wie ich.
Auch in der Corona-Zeit hilft es sicher, das Positive zu betonen, oder? Wenn sich der überwiegende Teil der Gesellschaft nicht sehr solidarisch verhalten hätte, wären wir als Gesellschaft nie so halbwegs glimpflich da durchgekommen.
Das ist richtig, ja. Die Menschen, die Corona-Beschränkungen kategorisch abgelehnt haben, die waren eine kleine, aber laute Minderheit. Viel größer war die Gruppe derjenigen, die still und leise viele Schwierigkeiten auf sich genommen und eine enorme Mehrfachbelastung gemeistert haben – etwa die Eltern, die monatelang ihre Kinder im Homeschooling betreuen und gleichzeitig selbst im Homeoffice arbeiten mussten. Menschen, deren ganzes Alltagsnetz plötzlich zusammengebrochen ist und die trotzdem nicht laut nach Freiheit gerufen haben – sondern ihre Verantwortung fürs Gemeinwohl gesehen haben.
Wir kommen immer wieder auf dieses Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung zurück. Heute gibt es Menschen, die wegen der stark gestiegenen Energiepreise ehrlich verzweifelt sind, in einer schlecht sanierten Mietwohnung wohnen, finanziell in Not geraten und sagen: „Ich werde für den Kampf gegen Wladimir Putin in meiner Freiheit beschnitten, das finde ich falsch.“ Was sagen Sie denen?
Wichtig ist mir: Es darf bei allem so wichtigen Engagement für unser Gemeinwohl der Einzelne nicht übersehen werden. Ja, wir wollen unsere Freiheit und die Freiheit der Ukrainer schützen und den Kriegstreiber Wladimir Putin bekämpfen, damit sein Vernichtungsfeldzug möglichst bald endet. Das ist alles richtig. Aber es darf nicht passieren, dass die, die sich die Auswirkungen unseres Engagements für die Freiheit nicht leisten können, dabei alleingelassen werden.
Tut der Staat nicht genug, um einkommensschwache Haushalte in dieser Krise zu entlasten?
Doch, der Staat tut etwas, damit die Menschen in dieser Notsituation über den Winter kommen können – auch wenn man im Detail sicher über die eine oder andere Maßnahme diskutieren kann. Zugleich gibt es aber auch andere tolle Initiativen, die helfen, bedürftigen Menschen über die Runden zu helfen. Etwa Pfarrheime, die zu Wärmestuben gemacht werden. Wenn Menschen sich das Heizen zu Hause nicht mehr leisten können, dann haben sie dort eine Rückzugsmöglichkeit. Das lindert nicht ihre materielle Not, aber es macht ihren Alltag vielleicht ein bisschen erträglicher.
Was können Kirche und Gemeinde tun, um christliche Werte in die Debatte um Freiheit einzubringen, ohne die Moralkeule zu schwingen, die ja selten gut kommt?
Die Moralkeule hilft da gar nicht, das glaube ich auch. Viel mehr bringt konkrete Hilfe. Die Kirche sollte lieber etwas tun als etwas predigen. Das haben sie ja schon in Corona-Zeiten geschafft. Es wurde oft gefragt: Wo waren denn die Kirchen in der Pandemie? Meine Erfahrung war: Im lokalen Alltag, an der Basis waren sie an vielen Orten durchaus sehr präsent. Das sollte jetzt, in der Energiekrise, wieder so sein.
Und wie kann die katholische Soziallehre die Freiheitsdebatte bereichern?
Sie bringt genau das Wissen um den Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung mit, der so wichtig ist. Die katholische Soziallehre sagt: Freiheit ist nur dann eine sinnvolle Freiheit, wenn sie auch die anderen mitdenkt. Unsere Freiheit können wir nur gemeinsam bewahren. Mein Eindruck ist, dass christliche Argumente im Moment langsam wieder stärker in die öffentliche Debatte zurückkommen – und dass häufiger als früher die Frage gestellt wird: Was ist es denn, was wir als Gesellschaft nur gemeinsam erreichen können?
Ist diese Frage nicht auch eine Chance: dass wir gemeinsam vieles schaffen können?
Ja. Das gerät bisher noch zu oft in Vergessenheit: was wir gemeinsam machen und gemeinsam schaffen können. Der Deutsche Caritasverband hat als Motto seiner Jubiläumskampagne den Satz gewählt: „Das machen wir gemeinsam“. Das finde ich einen sehr schönen Zuspruch, eine tolle Motivation. Wenn wir etwas gemeinsam anpacken, dann kann das auch gelingen.
Interview: Andreas Lesch