75 Jahre Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten
Verlassen, aber nicht vergessen
Mathilde Zimmermann und Johannes Behr studieren gemeinsam das mitgebrachte Bildmaterial. Foto: Stefan Schilde |
Als Johannes Behr über das erzählt, was er vor 75 Jahren als junger Steppke erlebte, schnürt es einem beim Zuhören den Hals zu. Die 20 Senioren, die sich in der Gemeinde St. Marien in Delitzsch eingefunden haben, nicken immer wieder mit dem Kopf, ihnen kommt das Geschilderte bekannt vor. Es geht um Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten in Polen und der Tschechoslowakei.
Der 84-Jährige erzählt von der Flucht seiner Familie aus dem oberschlesischen Gröbnig (heute Grobniki), mit dabei der gerade erst geborene Bruno, auf Nachbars Pferdefuhrwerk vor der anrückenden Roten Armee bis nach Bayern. Von der Rückkehr nach Kriegsende und den schlimmen Zuständen unter sowjetischer Besatzung, als Plünderung, Vergewaltigung und Mord an der Tagesordnung waren. „Für uns war es wirklich die Hölle auf Erden“, so Johannes Behr.
Bald schon musste sich Familie Behr entscheiden: Ihre deutsche Identität aufgeben und (unerwünscht) bleiben „dürfen“? Oder die Heimat verlassen? Wie die meisten Schlesier entschieden sich die Behrs schweren Herzens für die zweite Option. Die „Überführung der deutschen Bevölkerung“ sollte laut Beschluss der Westmächte „human“ erfolgen. Johannes Behr berichtet hingegen von völlig überfüllten Güterzügen und Sammellagern, von katastrophalen hygienischen Bedingungen. Erst nach Ankunft in der britischen Besatzungszone Monate später standen endlich wieder Körperpflege und eine richtige Mahlzeit an. „Immerhin waren wir am Leben geblieben“ – im Gegensatz zu vielen anderen.
Als „Befreiung“ habe den Sieg der Alliierten damals niemand empfunden. Johannes Behr erwähnt aber auch, was der Ursprung all der schrecklichen Geschehnisse war: Hitlers Angriff auf Polen und der damit entfesselte Weltkrieg. Ihm gehe es nicht um Revisionismus, sondern darum, das Geschehene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. „Auch, damit die Menschen für die Zukunft lernen können“. Wie die Gegenwart zeige, sei dies weiterhin bitter nötig. Ins gemeinsame Gebet schlossen die Anwesenden deshalb auch diejenigen ein, die heute weltweit unter Krieg, Flucht und Vertreibung leiden.
Lebhaft sprachen die Senioren darüber, wie der Glaube bei der Bewältigung der Katastrophe half. Wer als Vertriebener in Mitteldeutschland „gelandet“ war, hatte es lange schwer. Katholische Strukturen waren kaum vorhanden, die alteingesessene Bevölkerung stand den Neuankömmlingen nicht selten ablehnend gegenüber, nannte sie abfällig „Polacken“ – wegen deren Aussprache, mit dem rollenden „R“. Mit der Zeit wurde es besser. Evangelische Pfarrer hatten ihr Herz erweicht – und den Heimatvertriebenen Raum für eigene Gottesdienste zur Verfügung gestellt. Der wieder gemeinsam praktizierte Glaube an Gott habe ihnen Kraft und Halt verliehen, „sogar eine Art neues Heimatgefühl erzeugt“, erzählen die Senioren. Die aus Schlesien Vertriebenen unter ihnen betonen die Bedeutung der heiligen Hedwig, ihrer Schutzpatronin, für sie in der neuen, fremden Umgebung.
Natürlich besuchten viele später ihre alte Heimat. Hannelore Pradel, gerade 80 geworden, musste ihre Heimatstadt Aussig (Usti nad Labem) im damaligen Sudetenland als vierjähriges Mädchen verlassen. Später fuhr sie zurück zu ihrem Elternhaus – und erlebte eine echte Überraschung: „Die nun dort lebenden Tschechen hatten wertvolle Besitztümer wie Heiligenbilder und Teppiche für uns sorgsam aufbewahrt“, erzählt sie.
Auch Mathilde Zimmermann begab sich einst auf persönliche Spurensuche in Niederschlesien. 1987 besuchte sie gemeinsam mit ihrem Mann Wildheide-Drosselgrund (Dragow), wo sie bis zu ihrem zwölften Lebensjahr lebte. Vor Ort staunte sie nicht schlecht: „Im Nachbarhaus wohnte noch immer das gleiche polnische Ehepaar wie damals nach dem Krieg. Wir haben uns gut verstanden“, so die 87-Jährige. Gegen die jetzt dort lebenden Menschen hegt sie ohnehin keinen Groll mehr: „Letztlich waren diese Leute ja genauso Heimatvertriebene wie wir es waren.“ Der heiligen Hedwig würde Mathilde Zimmermanns Haltung vermutlich gefallen – sie gilt heute als Patronin der Versöhnung zwischen Polen und Deutschen.
Von Stefan Schilde