Mauerfall vor 35 Jahren
Vom Wert der Demokratie
Foto: Jörg Sabel
Wenn ich in mein früheres Leben eintauche, tue ich das am liebsten mit meinem Mann. Das heißt: Sobald wir in einer ehemaligen Grenzregion Urlaub machen, besuchen wir auch eine Gedenkstätte. Für uns als Ost-West-Paar immer wieder spannend. Zuletzt waren wir am „Point Alpha“ im Dreiländereck Thüringen, Hessen und Bayern. Dort standen sich bis 1990 die Vorposten von Nato und Warschauer Pakt gegenüber. Der ehemalige „Observation Post Alpha“, kurz: Point Alpha, war einer der wichtigsten Beobachtungsstützpunkte der US-Streitkräfte in Europa und einer der heißesten Punkte im Kalten Krieg.
Nachdem wir uns das Museum angeschaut hatten, sind wir ein Stück des Kolonnenweges gegangen, Teil der innerdeutschen Grenzanlagen auf Seiten der DDR. Den Kolonnenweg säumt eine Skulpturenreihe, sie erinnert an den Widerstand gegen die kommunistischen Diktaturen Mittel- und Osteuropas und würdigt den Willen zur Freiheit, die letztendlich gesiegt hat. Berührt hat mich, dass sich die Skulpturen an den biblischen Kreuzweg anlehnen, somit für das Leiden der Menschen stehen, aber auch für ihren Glauben an gewaltlose Veränderungen. Ich empfinde die friedliche Revolution 1989 als großes Geschenk. Wenn ich an den russischen Angriffskrieg in der Ukraine denke, hat nicht jedes Volk, das nach Freiheit und Demokratie strebt, das Glück eines gewaltfreien Umbruchs.
Diktatur in Nadelstichen
Als Kind bekam ich die Diktatur zunächst in Nadelstichen zu spüren. Ich war zum Beispiel traurig, dass ich auf den Besuch meiner Patentante aus Gladbeck nur einmal im Jahr hoffen durfte und sie nicht selbst besuchen konnte. Und ich war enttäuscht, als ich eines Morgens aufwachte und nicht den versprochenen West-Füllfederhalter vorfand, den mir meine Eltern aufs Bett legen wollten. Ich wusste, dass sie sich tags zuvor an der Transitstrecke nach Berlin-West mit meiner Patentante treffen wollten. Was ich nicht wusste: dass meine Eltern deswegen festgenommen und eine Nacht im Stasigefängnis in Magdeburg verhört wurden.
Im Jugendalter blieb es nicht mehr bei Nadelstichen. Einmal beleidigte mich eine Lehrerin, indem sie erstaunt feststellte, dass die gläubigen Schülerinnen und Schüler gar nicht mal die dümmsten in der Klasse seien. Spätestens als meine Mutter mir erzählte, dass sie wegen einer verweigerten Unterschrift, die den Einmarsch der russischen Soldaten 1968 in Prag gutheißen sollte, vom Lehrerstudium exmatrikuliert worden war, wurde mir die bedrückende Enge im Land bewusst.
Das Land, in dem ich aufgewachsen bin, war meine Heimat. Ich habe viele schöne Erinnerungen – auch in Diktaturen gibt es ein richtiges Leben im falschen. Mein Gegenpol zum real existierenden Sozialismus war stark und sinnstiftend: mein Elternhaus, der Glaube, die Kirchengemeinde. Aber auf Dauer nicht stark genug. Der Staat begann, meine Träume zu zerstören. Als Katholikin, die ihren Glauben nicht versteckte, durfte ich trotz guter Noten kein Abitur machen, ich durfte nicht studieren, nicht mal eine pädagogische Fachschule besuchen. Meine Mutter kämpfte für mich, sie stellte den Schuldirektor zur Rede, setzte sich demütigenden Gesprächen mit dem Kreisschulrat aus und schrieb unzählige Briefe, auch an den Staatsratsvorsitzenden. Vergeblich. Das Ohnmachtsgefühl angesichts dieser Willkür werde ich nie vergessen.
Beim Fall der Mauer war ich 19, jung genug, um beruflich neu durchzustarten. Und bald darauf, mit knapp 23, zog es mich dauerhaft in den Westen Deutschlands. 35 Jahre sind seitdem vergangen, aber ich vergesse nie, wie wertvoll Demokratie ist – trotz all ihrer Mängel. Da geht es mir ähnlich wie dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck. Demokratie ist nicht immer bequem, sie kann sehr anstrengend sein. Aber sie ist das beste unter den politischen Systemen – im Unterschied zu anderen existiert sie, weil ihre Bürger sie wollen. Dieses Deutschland gilt es zu stabilisieren und gegen nationalistische, populistische und demokratiefeindliche Bedrohungen zu verteidigen, egal, von welcher Seite sie kommen. Hin und wieder braucht es dafür den Blick in die Vergangenheit – geballte Geschichte, wie man sie zum Beispiel am „Point Alpha“ erleben kann.