Von Einsicht und Umkehr

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Sein Wandel vom Nationalsozialisten zum Widerständler macht Pastor Karl Friedrich Stellbrink zum widersprüchlichsten der Lübecker Märtyrer. An seinem 125. Geburtstag lädt die Gedenkstätte Lutherkirche zu einem Vortrag ein. 

Foto von Karl Friedrich Stellbrink und seiner Frau Hildegard
Es ist das vermutlich letzte gemeinsame Bild, das von Karl Friedrich Stellbrink und seiner Frau Hildegard gemacht wurde. Foto: Gedenkstätte Lutherkirche

Nein, das Alte Testament sei „kein Mist“, schreibt der Pastor. Vielmehr sei es ein „ein jüdischer Trödel-Kram-Kasten“ meint er und fügt noch ein paar antisemitische Schmähungen an, die kein gutes Licht auf ihn werfen. 

Es sind genau jene Worte, mit denen sich Karl Friedrich Stellbrink gegenüber der auslandsdeutschen Synode in Brasilien rechtfertigt, wo er von 1921 bis 1929 lebt und seine Familie gründet. Es hat sich herumgesprochen, dass der junge Pastor vom Alten Testament wenig hält. Er geht in dieser Zeit sogar soweit, „in mehr oder weniger wirren Herleitungen Jesus zu einem arischen Sohn eines römischen Legionärs zu konstruieren“, wie es Dr. Karen Meyer-Rebentisch von der Lübecker Gedenkstätte Lutherkirche ausdrückt. 

Die Kulturwissenschaftlerin hält am Montag, 28. Oktober im Beicht­haus des Hansemuseums in Lübeck um 19 Uhr einen Vortrag aus Anlass des 125. Geburtstags von Karl Friedrich Stellbrink. „Ich versuche, ihn als Kind seiner Zeit zu zeigen. Ich muss ihn dabei auch mit seinen ganzen völkisch-nationalistischen Verirrungen darstellen, die über viele Jahre seines Lebens prägend für ihn waren. Er ist zu dieser Zeit komplett verblendet, da gibt es nichts zu beschönigen“, so Meyer-Rebentisch, die sich seit 2010 mit den Lübecker Märtyrern beschäftigt und die ständige Ausstellung in der Lutherkirche kuratiert hat. Sie zeichnet in ihrem Vortrag detailliert den Werdegang eines Mannes nach, der frühzeitig national-protestantisch, antisemitisch und antikatholisch denkt. 

Geboren am 28. Oktober 1894 in Münster, wächst er in der Familie eines Zollbeamten auf, in der es weder harmonisch noch  liebevoll zugeht. Und doch, der Vater fühlt sich und seine Familie zu Höherem berufen. Aber die Realität ist eine andere. Mit sechs Kindern muss der Vater den sozialen Abstieg für sich und seine inzwischen nach Detmold umgezogene Familie fürchten. 

Sohn Karl Friedrich, genannt Fritz, ist ein miserabler Schüler. Er zeigt sich lediglich musikalisch und künstlerisch begabt. Als er 1911 die Schule verlässt (Eduard Müller und Johannes Prassek werden in diesem Jahr geboren, Hermann Lange ein Jahr später), schicken ihn die Eltern nach Berlin. Dort besucht Stellbrink das Internat „Johannesstift“, eine  Kaderschmiede des National-Protes­tantismus.

Stellbrink radikalisiert sich etwa 1917–1919

1913 verlässt Karl Friedrich das Internat und beginnt im Frühjahr auf Wunsch des Vaters am ­Diasporainstitut in Soest eine Ausbildung zum Auslandsprediger. Doch schon im Februar 1915 wird er zum Militärdienst eingezogen, aus dem er im September 1917 mit einer Verletzung an der linken Hand wieder entlassen wird. Zurück in Berlin, verbringt er zwei Jahre im Hause eines „Kinderrettungsvereins“, wo er die Wohlfahrtsarbeit erlernt. Als 24-Jähriger holt er 1919 sein Abi­tur nach und kehrt ans Diaspora­institut zurück, wo er ein Jahr später seinen Abschluss macht. In dieser Zeit tritt er mehre­ren völkischen und antisemitischen Organisationen bei, darunter dem Bund für Deutsche Kirche. „Er radikalisiert sich in dieser Zeit von 1917 bis 1919 unter dem Eindruck des verlorenen Krieges und der Republikgründung“, analysiert Meyer-­Rebentisch.

Als Vikar in Ostwestfalen gründet Stellbrink mit anderen Theologen einen Orden zur „Erhaltung und Verbreitung eines reinen, wahren Christentums“, wie er es nennt. Mit diesen Überzeugungen tritt er 1921, frisch vermählt mit seiner Frau Hildegard, die er aus Detmold kennt, die Reise nach Brasilien an. Von den vier Kindern des Paares, die in dieser Zeit geboren werden, überleben nur drei.

1929 kehrt die Familie zurück. In Thüringen übernimmt Stellbrink 1930 ein Pfarramt. Mit ihm ziehen seine Familie, die Schwiegereltern und die beiden Söhne seiner Schwester Irmgard ein, die inzwischen wegen einer psychischen Erkrankung in eine Heilanstalt eingewiesen wurde. Stellbrink ist noch immer glühender Nationalist, tritt bei der NSDAP als Redner auf und wird im Mai 1933 Mitglied. „Es sind ja gewaltige Zeiten, die wir jetzt durchleben. Und wenn nicht alles trügt, will sich das gute, echte, alte Deutsche Wesen wieder zum Lichte durchringen“, notiert er. 

„Noch glaubt er den Versprechungen Hitlers, dass die Kirche ein Fundament der deutschen Gesellschaft sei und bleibe“, erläutert Meyer-Rebentisch. Doch lange hält die Begeisterung nicht an: Disziplinlosigkeit, Verworrenheit, Unsittlichkeit attestiert Stellbrink den Nazis, die ihn als Pastor und Kriegsveteran eher belächeln als würdigen. Als er die Gelegenheit erhält, in der deutsch-christlich geprägten Lübeckischen Landeskirche im „Kreise Gleichgesinnter“ zu arbeiten, nimmt er den Ruf an die dortige Lutherkirche 1934 an. Doch nach einem kurzen Hoch  merkt er: Die Nazis in Lübeck unterscheiden sich kaum von denen in Thüringen. Mehrfach kritisiert Stellbrink die Parteiführung und wird als Querulant 1936 aus der NSDAP geworfen (1937 zu einer „Entlassung“ abgemildert). 

Zu der Zeit habe er „die wachsende antikirchliche Haltung in Staat und Partei“ erkannt, erläutert Meyer-Rebentisch. Diese anti­kirchliche Haltung gipfelte in der Vorstellung von einer Kirche ohne Christus. „Da war für ihn die Grenze erreicht.“ Es folgt konsequenter Weise sein Austritt aus dem Bund der Deutschen Kirche.

Stellbrink beginnt sich mehr und mehr von seinen alten Ansichten zu lösen. Offen wendet er sich 1939 gegen den Krieg und wird dafür von der Gestapo verwarnt. In den Abkündigungen im Gottesdienst spricht er nicht von Helden. „Als Opfer des Krieges fielen im Westen aus unserer Gemeinde“, formuliert er mutig. Als auch sein Pflegesohn Ewald fällt, ist er schwer erschüttert.

1941 trifft Stellbrink auf die katholischen Kapläne. Bei einer Trauerfeier auf dem Burgtorfried­hof lernt Stellbrink zunächst Johannes Prassek kennen. Seinen Antikatholizismus hat er da schon begraben. „Beide erkannten offenbar auf Anhieb ihre ‚gleiche Wellenlänge‘, ihre Gegnerschaft zum Regime sowie die Aussichtslosigkeit und Verderblichkeit des nach Osten gerichteten Krieges“, heißt es dazu in „Geführte Wege“, dem Standardwerk von Peter Voswinckel. Zwischen den Gemeindehäusern gehen fortan Flugschriften, Hirtenbriefe, Zeitungsberichte und Predigten hin und her.

Katholische Kapläne sind wie Brüder im Geiste

Doch das ist nicht alles. Die Religiosität und Spiritualität, die der evangelische Pastor bei den Katholiken in Herz Jesu erlebt, tut ihm gut. „Es muss ihm seelisch sehr wohl getan haben, dass er nicht alleine stand, sondern Brüder im Geiste hatte“, glaubt Meyer-Rebentisch. 

Als Höhepunkt des verschwörerischen Tuns gilt die Vervielfältigung und Verbreitung der Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen, der sich entschieden der Euthanasie entgegenstellt. 

Ende März 1942, in der Nacht auf Palmsonntag, fliegt die Royal Air Force einen Großangriff auf Lübeck. Beim Gottesdienst am nächsten Morgen sagt der Pastor: „Jetzt spricht Gott mit mächtiger Stimme“ und „Ihr werdet wieder beten lernen“. Es sind Sätze, die zur Verhaftung Stellbrinks am 7. April führen. Wenige Wochen später werden auch Johannes Prassek, Eduard Müller und Hermann Lange festgenommen, ebenso 18 Laien aus der katholischen Gemeinde, von denen die meisten später mit geringen Haftstrafen davonkommen. 

Für die Priester beginnt die zermürbende Zeit der Haft. Die Urteile stehen schon vorher fest, als ihnen im Juni 1943 in Lübeck der Prozess gemacht wird. Sie werden zum Tode verurteilt und ins Gefängnis am Holstenglacis in Hamburg gebracht, wo sie sich sehr nahe kommen. „Wir sind wie Brüder“, schreibt Hermann Lange einmal. 

Am Abend des 10. November 1943 werden die Todesurteile vollstreckt. Karl Friedrich Stellbrink wird 1993 durch den damaligen evangelischen Bischof Karl Ludwig Kohlwage rehabilitiert. Papst Benedikt XVI. spricht die katholischen Kapläne am 25. Juni 2011 selig. Des Pastors wird ehrend gedacht.

Text: Marco Heinen

Gedenken an die Märtyrer in Lübeck

Montag, 28. Oktober, 19 Uhr, Hansemuseum, Beichthaus: Vor­trag von Dr. Karen Meyer-Rebentisch mit szenischer Lesung des Schauspielers Andreas Hutzel. Anmeldung unter Tel. 0451 / 809 09 90 erbeten;
Sonntag, 3. November, 11 Uhr, Lutherkirche Moislinger Allee 96: Gottesdienst; Liturgie: Pastorin Constanze Oldendorf, Predigt Pfarrer Joachim Kirchhoff;
Sonntag, 10. November, 18 Uhr, Propsteikirche Herz Jesu, Parade 4: Pontifikalamt zum 76. Jahrestag der Hinrichtung der Lübecker Märtyrer. Liturgie und Predigt: Erzbischof Dr. Stefan Heße;
zuvor am 10. November, 17 Uhr: Kranzniederlegung am Zeughaus (Parade) mit Dr. Ingaburgh Klatt und Propst Christoph Giering. 12 Uhr: Andacht in St. Marien mit Kranzniederlegung an den Rathausarkaden.