Im Gespräch mit einer Natur- und Achtsamkeitstrainerin
Wahrnehmen und nicht bewerten
Foto: Andrea Kolhoff
Ach herrje, Achtsamkeit, was ist das denn für ein esoterischer Mist? So denken einige, und sie sind damit nicht allein. Auch Mareike Loth hatte solche Vorbehalte. Doch dann absolvierte die Resilienztrainerin, die in Osnabrück bei der Heilpädagogischen Hilfe (HHO) arbeitet, eine Weiterbildung zur Natur- und Achtsamkeitstrainerin und stellte fest: Achtsamkeit einzuüben, kann helfen, in Stresssituationen ruhiger zu reagieren.
Die heutige Arbeitswelt setzt viele Menschen unter Anspannung. Das Erleben in der Natur und die Besinnung auf den Moment könnten uns dagegen stärken, sagt Loth, das hätten Studien gezeigt. „Achtsamkeit ist das Gegenteil von Multitasking“, sagt Loth. Achtsamkeit einzuüben, könne zu mehr Gelassenheit führen.
Was ist Achtsamkeit?
Achtsamkeit bedeute, voll und ganz im gegenwärtigen Moment zu sein, und die Dinge im Augenblick bewusst und aufmerksam wahrzunehmen, ohne zu urteilen, ohne Absichten zu hegen und ohne sie verändern zu wollen, sagt Loth. Achtsam sein, heißt auch, mit den Gedanken nicht schon in der Zukunft zu sein und nicht in der Vergangenheit zu stecken.
Achtsamkeit beim abwaschen
Eine einfache Übung, die das verdeutlicht, ist das achtsame Abwaschen. Dabei spielt es keine Rolle, ob man viel oder wenig abwäscht. „Das geht auch mit drei Tassen“, so Loth. Bei dieser Übung trainiert man, mit den Gedanken bei seinem Tun zu bleiben, also beim Abwaschen. Man kann wahrnehmen, ob das Wasser sehr heiß ist oder wie viel Spülmittel sich im Wasser befindet. Bei Personen, die im Alltag viele Aufgaben zu jonglieren haben, geht das Gedankenkarussell los: Ist die Waschmaschine wohl schon fertig? Ich muss noch einkaufen! Haben die Kinder ihre Hausaufgaben gemacht? Man kehrt aber zur Übung zurück und konzentriert sich wieder aufs Abwaschen. Die Devise: „Ich spüle nur ab.“ Wenn es tatsächlich nur drei Tassen sind, dauert diese Übung nicht lange. Es sei besser, jeden Tag drei Minuten etwas achtsam zu tun, als sich gestresst eine halbe Stunde freizuschaufeln, sagt Mareike Loth. Hier weitere Tipps:
Achtsamkeit an der Haustür
Eine gute Übung für jeden Tag ist das Hinausgehen vor die Haustür. Das kann man leicht in den Alltag integrieren und zum Morgenritual machen. Sobald man aufgestanden ist, geht man zur Tür, öffnet sie und registriert, was draußen ist. Ist es schon hell? Wie kalt ist es? Wie riecht die Luft heute? Weht ein Wind, gibt es Regen? „Nehmen Sie einen tiefen Atemzug und gehen Sie wieder hinein.“
Das Vor-die-Tür-Gehen lässt sich auch abends durchführen, vor der Haustür, auf der Terrasse, am geöffneten Fenster oder auf dem Balkon. „Sie können wahrnehmen, was ist, und die Übung mit einem Dankbarkeitsgebet verknüpfen“, sagt Mareike Loth.
Auf dem Weg zur Arbeit
Für viele bietet es sich an, den Weg zur Arbeit für eine Achtsamkeitsübung zu nutzen. Wie ist die Luft heute, was sehe ich, was sieht anders aus als sonst? Manche Radfahrer führt der Weg durch die Natur, dann ist es leicht, ins Grüne zu schauen und zum Beispiel wahrzunehmen, ob die Bäume schon Herbstlaub tragen. Aber auch in der Stadt kann man grüne Umgebungspunkte suchen, denn Grün beruhige den Menschen, so die Naturtrainerin. „Etwas Grün gibt es immer“ sagt Loth. Das kann der Baum sein, an dem ich das Fahrrad abstelle, oder eine Hecke oder ein Stück Rasen.
Im Homeoffice
Wer seine Schreitischarbeit von zu Hause aus erledigt, kann sich gezielt eine Pausenzeit setzen und in dieser einmal ums Haus gehen oder vor die Tür treten. Dann geht es wieder darum, wahrzunehmen, was ist. Das können auch negative Gefühle sein, vielleicht, weil man feststellt: „Heute kann ich gar nicht gut tief durchatmen. Ich habe viel Stress.“ Dies ohne Bewertung festzustellen, ist auch ein Moment der Achtsamkeit.
In der Natur
Ein Aufenthalt in der Natur bietet die besten Möglichkeiten für Achtsamkeitsübungen, weil das Grün der Natur den Menschen nachweislich guttut. Statt auf den Computerbildschirm in die Ferne und ins Grüne zu schauen, hat positive Auswirkungen. „Die Farbe Grün beruhigt und beschleunigt Heilungsprozesse, Braun ist ein Seelenschmeichler“, erklärt Loth. Bäume verströmen Terpene, die uns guttun. Ein Aufenthalt in der Natur spricht viele Sinne an. „Unser Organismus ist auf Natur ausgerichtet“, so Loth. Man müsse nicht jeden Tag eine Stunde wandern gehen, auch kleine Aufenthalte in der Natur hätten positive Effekte. Die Übungen sollen in den Alltag passen. „Es geht darum, das alles nicht verbissen zu sehen.“
Mit der Familie
Kleinen Kindern braucht man über Achtsamkeit nichts erzählen, sie sind immer ganz und gar bei der Sache. Wenn sie gerade einen Käfer beobachten oder Sand durch die Hände rieseln lassen, sind sie ganz bei dieser Tätigkeit und denken nicht daran, ob es Zeit ist, die Jacke anzuziehen, weil man noch irgendwohin muss.
Innerhalb der Familie kann man sich vom Talent der Kleinen, im Hier und Jetzt zu sein, anstecken lassen. Schön sind Spaziergänge in der Natur, bei denen bewusst Achtsamkeit im Mittelpunkt steht. Vielleicht findet jeder draußen etwas in seiner Lieblingsfarbe oder man sammelt Kastanien, Eicheln und Blätter. Alle können die Dinge, die man findet, nicht nur sehen, sondern auch anfassen und den Geruch wahrnehmen. Unterwegs gibt es manches zu entdecken. Riecht es im Wald nach Herbst? Wie fühlt sich die Baumrinde an? Ist das Moos am Stamm kühl oder trocken?
Regenwanderung mit Kindern
Eine Abwechslung ist der Regenspaziergang, den man passend angezogen startet. Jetzt können alle darauf achten, wie sich die Umgebung im Regen darstellt. Welche Geräusche gibt es? Wie verändert sich der Untergrund, wenn es nass ist? Spüre ich die Tropfen im Gesicht? Auch hier gilt: wahrnehmen, ohne zu werten.
wirklich pause machen
Eine gute Gelegenheit für eine Achtsamkeitsübung, die entschleunigt, ist die Getränkepause. Das geht ganz einfach: Den Wasserkocher in Gang setzen und dann nicht rauslaufen, um am Computer etwas zu googeln, sondern daneben geduldig warten, bis das Wasser kocht. Die Wartezeit darf als eine geschenkte Zeit betrachtet werden. Dann wird der Tee oder Kaffee nicht nebenher am Arbeitsplatz getrunken, sondern in der Teeküche. „Es geht darum, bewusst und achtsam Pause zu machen. Wenn man merkt, dass man mit den Gedanken woanders ist, holt man die Gedanken zurück.“
Gesicht in die Sonne halten
Eine ganz einfache Übung besteht darin, sein Gesicht einmal richtig in die Sonne zu halten. Und wahrzunehmen, was man fühlt. Das geht draußen, aber auch am geöffneten Fenster.
Einfach tief durchatmen
Eine ganz einfache Übung ist das bewusste Atmen. „Der Atem ist unser Anker“, sagt Loth. Jeder könne einmal kurz bewusst atmen und dabei in sich hineinhorchen. Und vielleicht feststellen: Ich bin traurig. Ich bin bedrückt. Ich bin gestresst. Was brauche ich jetzt, in diesem Moment?
Fazit
Im besten Fall können Menschen, die Achtsamkeit eingeübt haben, in Stresssituationen davon profitieren, dass sie sich mit kleinen Übungen wieder erden – durchatmen oder sich auf den Duft von Blumen konzentrieren, bis sie ruhiger werden. Achtsamkeit einzuüben, heißt allerdings nicht, alle Verpflichtungen von sich zu schieben. „Manche verwechseln Selbstfürsorge auch mit Egoismus“, sagt Mareike Loth. Bei Selbstfürsorge gehe es darum, seine Grenzen zu erkennen. Das sei für Personen, die sich ehrenamtlich engagieren, wichtig. Nur wer selbst nicht gestresst ist, kann für andere da sein. Oder, wie es in der Bibel heißt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“