Anfrage

War die neue Übersetzung bei Jesaja nötig?

Bei Jesaja heißt es jetzt: „Wie der junge Mann die Jungfrau in Besitz nimmt, so nehmen deine Söhne dich in Besitz“ (Jes 62, 1–5). Das klingt eher nach Gewaltanwendung als nach liebevollem Werben. Ist diese Übersetzung im Hinblick auf die Nähe zum Urtext wirklich nötig gewesen? M. S., Berlin

Das Anliegen der neuen Einheitsübersetzung von 2016 ist es, sachliche Korrekturen am Text anzubringen und auch Beschönigungen des Texts zu tilgen, die dem Text manchmal Härte nehmen sollten. Vermutlich sollte hier die Bedeutung des im hebräischen Text gebrauchten Verbs deutlicher herausgestellt werden und damit auch die Parallele beider Versteile. 

Das zugrunde liegende hebräische Verb bedeutet einerseits „beherrschen, besitzen“, im weiteren Gebrauch aber auch „zur Frau nehmen, heiraten“. Allein diese Doppeldeutigkeit verrät, dass Heirat zur alttestamentlichen Zeit üblicherweise ein einseitiger Vorgang des Übergangs der Frau in den Besitz oder die Herrschaft des Mannes war. Das benennt die neue Einheitsübersetzung 
hier, ohne zu beschönigen. 

Zudem passt sich die Formulierung gut an den zweiten Teil des Verses an, denn hier nehmen die Söhne Jerusalems (textkritisch möglich auch: die Erbauer) ebenfalls ihre Stadt nach langer Zeit wieder in Besitz. Es handelt sich also nicht nur um eine spirituell eher unkonkrete Vision von einer Vermählung, sondern Jerusalem wird tatsächlich wieder Eigentum des Volkes Israel werden.

Ein Nachteil dieser Übersetzung aber wurde schon in der Anfrage benannt: Die Inbesitznahme einer Jungfrau klingt für heutige Ohren nach Vergewaltigung, mindestens aber nach gewaltvoller Gefangen-
nahme – und das gibt den hebräischen Text nicht angemessen wieder. 

Außerdem wird die besprochene Verbform schon im vorhergehenden Vers verwendet und dort selbst in der neuen Einheitsübersetzung zweimal mit „vermählt“ übersetzt. Und schließlich sind die Verse dieses Textabschnitts von der Freude Gottes über die Braut Zion durchzogen, so dass der Begriff der Inbesitznahme der Jungfrau an dieser Stelle eher fehl am Platze anmutet.

Christoph Buysch