Kardinal Lehmann und die Diaspora

Weite, Wagnis, Offenheit

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Kardinal Karl Lehmann war ein „Schwergewicht“, eine unangefochtene Autorität als Theologe und Bischof. Sogar die Diaspora des Nordens hat er verstanden. Das hat er bei seinen nicht wenigen Gast-Auftritten gezeigt. 

Kardinal Lehmann bei einem Gottesdienst in Hamburg
Kardinal Lehmann bei einem Gottesdienst 2009.  Foto: kna

„Hier wird die Kirche mit den modernen Herausforderungen im Blick auf Glaube und Menschenwürde konfrontiert. Hier wird sie härtesten Fragen und Zweifeln ausgesetzt, die ihre Zukunft überhaupt in Frage stellen.“ Als Bischof Lehmann diese Sätze sprach, stand er im Kaisersaal des Hamburger Rathauses. „Hier“, damit meinte er das Erzbistum Hamburg, das wenige Stunden vorher, am 7. Januar 1995 errichtet worden war. Karl Lehmann war 59 Jahre alt, seit sieben Jahren Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, aber noch nicht Kardinal. 

In seiner Rede sprach er von der Hoffnung, die die Kirche Deutschlands mit der Gründung verband: „Die Kirche in Hamburg hat mit ihrer Akademie und ihren Schulen, ihren Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen und vor allem mit den Gemeinden bisher schon ein offenes Gesicht gezeigt. Hansestadt – dies erfordert auch von der Kirche Weite und Offenheit, Mut und Bereitschaft zum Wagnis, wie es die Seefahrer und Kaufleute immer schon praktizierten.“ 

Karl Lehmann sah aber auch die Probleme, die auf die neu formierte Kirche zukommen sollten: Das starke Hamburg wird viel Rücksicht und Integrationskraft aufbringen müssen, um den kleinen, entfernt liegenden Diasporagemeinden im Norden und im Osten des neuen Erzbistums die lebendige Erfahrung zu vermitteln, sie gehörten wirklich dazu und seien nicht nur ein auf die Dauer lästiges Anhängsel.“ 

Kardinal Lehmann bei der Feier des 60. Todestages der Lübecker Märtyrer in der Krypta in Herz Jesu Lübeck
Bei der Feier des 60. Todestages der Lübecker Märtyrer 2003.  
Foto: Christian Schlichter

Karl Lehmann war Süddeutscher, lange Jahre Professor in Freiburg. Sein Bistum Mainz war von dort aus schon „Norddeutschland“. Aber er war mehrmals im „richtigen“ Norden. So vor 15 Jahren, zum 60. Todestag der Lübecker Märtyrer. In seiner Predigt wandte sich der Kardinal auch an die Christen von heute: „Wir sind manchmal beschämt über unseren lauen und der Gleichgültigkeit benachbarten Kleinglauben. Es ist beschämend für den christlichen Glauben – wenigstens in Europa – dass kaum jemand für die Ideale des christlichen Glaubens leidet und gar stirbt.“ Die Predigt schloss mit den Worten: „Die Märtyrer sind Zeugen dafür, dass die Gewalt nicht das letzte Wort hat.“ 

Ein Vorsitzender der Bischofskonferenz ist außerhalb seines Bistums immer Ehrengast, er steht auf der Kanzel oder am Rednerpult. Aber es ist allgemein bekannt, dass der brilliante Theologe noch einmal „Gas gab“, wenn die Pflicht erledigt war und man im kleinen Kreis bei einem – nie nur einem – Glas Rotwein ins Plaudern kam. Weihbischof Hans-Jochen Jaschke gehörte zu denen, die oft dabei waren: „Karl Lehmann ist immer gern nach Hamburg gekommen. Diese liberale, säkulare, weltoffene Stadt war ihm sympathisch. Die Akademie hat er geliebt.“ Und die Gäste der Veranstaltungen mit Karl Lehmann konnten über dessen Kompetenz nur staunen. Weihbischof Jaschke: „Er war ja ein Fass voller Wissen, der alles wusste, und zu jedem Thema immer auch die neuesten Aufsätze gelesen hatte.“ 

Als die Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 2009 in Hamburg tagte, ließ es sich der Hamburg-Freund aus Mainz nicht nehmen, die Predigt in einer Morgenmesse in St. Elisabeth zu halten. Das Evangelium waren die Verse 7 bis 15 aus dem sechsten Kapitel des Matthäusevangeliums: das Vaterunser. Was sagt man 68 Bischöfen über das Vaterunser? 

Die Predigt war ein theologisches Glanzstück. Kardinal Lehmann beantwortete damals schon eine Frage, die erst vor wenigen Monaten die ganze Kirche irritiert hat: Führt Gott uns in Versuchung? Karl Lehmann: „Gott prüft, Gott erprobt den Glauben. Versuchung ist nicht unbedingt und in jedem Fall schon und nur Versuchung zum Bösen. Gott führt uns in Situationen, wo wir uns in der Erprobung entscheiden müssen. (…) „Wenn Gott aber nicht das Böse will, dann müssen wir unsere Bitte in folgendem Sinn ersehen. Führe uns nicht in eine Erprobung, die über unsere Kräfte geht und wo die Macht des Bösen stärker wird als wir.“

Text: Andreas Hüser