Die Brüder Qaso würden ihren Lebensunterhalt gern selbst verdienen. Wenn man sie denn ließe
Wenn die Arbeit nicht ruft
„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Liegt der Apostel Paulus richtig mit diesem Spruch? Auch dann, wenn Menschen nicht vor der Arbeit fliehen, sondern die Arbeit vor ihnen?
Von Michael Maldacker
Derwisch und Majdal Qaso leben in Nordrhein-Westfalen, im Kreis Steinfurt. Die Brüder sind 25 und 28 Jahre alt und gehen noch zur Schule. Sie holen ihre Schulbildung für Deutschland nach – das Land, in dem sie leben wollen, aber das ihre Qualifikation aus dem Irak nicht anerkennt.
Derwisch und Majdal gehören dem jesidischen Glauben an. Als Nichtmuslime waren sie damit in ihrer Heimat im nördlichen Irak Anfeindungen ausgesetzt. Was es heißt, in Ausgrenzung zu leben, sind sie als religiöse und ethnische Minderheit gewohnt. Ebenso Verfolgung und Terror. „Wir haben zu Hause sehr gut verdient“, erzählt Derwisch, der Ältere. Die Eltern hatten ein Geschäft für Damenmode, ebenso einen riesigen Gemüsehof. Dann kam die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu ihnen in den Distrikt Shingal. „Sie haben unser Geschäft niedergebrannt“, erzählt Derwisch Qaso. Weshalb? „Für sie war es verboten, dass Männer mit Frauenkleidern zu tun haben“, sei ihnen gesagt worden. Das war 2014. Plötzlich war die Familie ohne Arbeit, ohne Einkommen, ohne alles, von jetzt auf gleich. Der Brandjustiz fiel auch das Wohnhaus der Familie zum Opfer. Kein Obdach mehr.
Aber die Familie hatte ja noch den Gemüseanbau. „Wir haben uns gemüht und geplagt, Tag und Nacht haben wir gearbeitet“, schreibt der Apostel Paulus. Derwisch und Majdal sind diesem Beispiel gefolgt: Landwirtschaft. Plackerei. Auberginen, Tomaten, Wassermelonen haben sie angebaut. Daran nahm der IS keinen Anstoß. Mit harter Arbeit hätten sie „gut gelebt“, erzählen die Brüder.
Fünf Jahre Flüchtlinge im eigenen Land
Doch als religiös Verfolgte hatten sie beim IS-Regime keinerlei Rechte. Die Brüder lebten mit ihren Eltern fünf Jahre lang in einem Flüchtlingslager im eigenen Land. Der IS hatte den Nordirak mit Terror überzogen, und als Jesiden galten die Qasos als Feinde. Die Flüchtlingslager waren instabile Zeltstädte, immer wieder mussten die Brüder vor den Terroristen fliehen. Kein fester Wohnsitz, keine feste Arbeit. Die Brüder verdingten sich als Tagelöhner.
Beim Internationalen Roten Kreuz in einem Flüchtlingslager konnte Majdal eine sechsmonatige Ausbildung zum Friseur machen. Geld hatten die Flüchtlinge, denen er die Haare schnitt, allerdings keines. Und somit auch nicht Majdal. „Wir waren froh, dass wir irgendwie überlebt haben“, sagt der 25-Jährige heute. Wie zynisch klingt für ihn der Apostel Paulus: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“
Auf der Flucht aus dem Elend erging es den Brüdern nicht besser. Mit der Hilfe von Schlepperorganisationen flohen sie über die Türkei und Belarus nach Lettland. Dort brauchten die Brüder ihre letzten Ersparnisse auf. Und es reichte trotzdem kaum zum Überleben. Kälte und Hunger zermürbten sie.
„Der Staat möchte Menschen abschrecken“
Birgit Naujoks kennt sich mit Armut aus. Sie ist Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Nordrhein-Westfalen und hat jeden Tag mit ähnlichen Schicksalen zu tun. Die Juristin erklärt, dass es in Deutschland ein Gesetz gibt, das Flüchtlingen verbietet zu arbeiten. Das Gesetz gilt unterschiedlich, je nachdem, woher man kommt und wie lange man schon in Deutschland ist. „Der Staat möchte Menschen abschrecken“, sagt Birgit Naujoks, „ein Zeichen setzen, dass Flüchtlinge hier nicht willkommen sind.“ Und wovon sollen sie in dieser Zeit leben? „Natürlich gibt es staatliche Sozialleistungen für Asylbewerber“, sagt Naujoks, „diese sind jedoch noch geringer als das Arbeitslosengeld II, das sogenannte Hartz IV.“
Für die Qaso-Brüder heißt es somit zehn Jahre nach dem IS-Terror erneut: Verzicht, Diskriminierung, unsichere Zukunft. Mitten in Deutschland. Unpassender kann der Apostel Paulus wohl nicht liegen, wenn er gebietet, dass Menschen „in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen und ihr eigenes Brot essen“ sollten.
„Komm, die Arbeit ruft“, heißt ein gängiger Motivationsspruch. Manchmal kann die Arbeit aber auch ganz lange schweigen. Bis zu neun Monate lang nämlich müssen Geflüchtete in Deutschland warten, ehe sie eine Arbeit aufnehmen dürfen. Je nachdem, woher sie kommen. Aus manchen Ländern, etwa den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, erhalten Menschen in Deutschland überhaupt keine Arbeitserlaubnis, „sie sollen ausgeschlossen werden, sollen zurückgehen“, sagt Birgit Naujoks. Dorthin, wo es aber auch keine Arbeit gibt. Essen müssen sie trotzdem.
Der Schulabschluss ist jetzt in Reichweite
Armut ist in Deutschland längst nicht nur ein Problem von Zugewanderten. Die Arbeit der eigenen Hände reicht hier vielfach nicht mehr zu einem guten Leben. „Die Unterschiede zwischen arm und reich werden in Deutschland immer größer“, kann Birgit Naujoks aus ihrer Erfahrung berichten. Die Zahl der Obdachlosen wachse. „Schauen Sie doch mal, wie viele Pfandflaschensammler heute in unseren Straßen unterwegs sind“, fügt sie hinzu. Hat der Apostel Paulus tatsächlich den täglichen Kampf armer Menschen ums Überleben gemeint, wenn er von Leuten spricht, „die alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten“? Wohl kaum.
Bescheiden sind Derwisch und Majdal Qaso bis heute. Und optimistisch. Sie gehen inzwischen auf die Technischen Schulen Steinfurt. Dort können sie in unterschiedliche Berufe hineinschnuppern und nun auch einen deutschen Schulabschluss erreichen. Derwisch Qaso hat den Hauptschulabschluss in Reichweite. Dabei war er im Irak bereits zehn Jahre lang auf der Schule gewesen. Majdal Qaso möchte Friseur werden. Damit verdient man auch in Deutschland nicht viel. Aber wenigstens kann er arbeiten.