Ohne Hilfe geht es nicht mehr
Wenn Eltern alt werden
Erwachsene Kinder sorgen sich um ihre Eltern, die lange unabhängig bleiben wollen, aber nicht mehr alles alleine schaffen. Die Kinder, die sie unterstützen, kommen an ihre Grenzen.
Ungeduld, Hilflosigkeit und ein schlechtes Gewissen sind oft Begleiter Erwachsener, die sich um ihre alt werdenden Eltern kümmern. Kümmern wollen, sollen, müssen. Manche können die Verantwortung mit ihren Geschwistern teilen, andere haben das Gefühl, alles allein stemmen zu müssen. Zwei Bücher geben beispielhaft Einblick in die Welt der Mittfünfziger, die zusätzlich zu ihren anderen Verpflichtungen eine neue zeitraubende Aufgabe bekommen. Zitiert wird aus „Mutti baut ab“ von Kester Schlenz und „Meine Mutter, das Alter und ich“ von Katja Jungwirth.
Bewegung tut gut
Die Enkelkinder haben der Großmutter ein iPad zur Verfügung gestellt, auf YouTube macht eine junge Frau gymnastische Übungen vor. Das gefällt der Mutter von Katja Jungwirth, die zu Hause die Übungen nachturnt. Daraufhin wird eine nette Physiotherapeutin engagiert, die ins Haus kommt und regelmäßig mit ihr übt. Das gefällt der Mutter. Doch nach dem dritten Mal sagt sie alle weiteren Stunden ab: Sie mag keine festen Termine, das schränkt sie in der Tagesgestaltung zu sehr ein.
Die Mutter von Kester Schlenz soll auf Anraten des Arztes eine Herzsportgruppe besuchen. „Da muss ich dann irgendwie mit alten Leuten in einer Sporthalle rumhüpfen. Furchtbar!“, urteilt seine Mutter. Ein paarmal geht sie hin, dann lässt sie es bleiben. Schlenz schreibt: „Es ist ein interessantes Phänomen, dass alte Leute sehr häufig andere alte Leute sehr verächtlich als „alte Leute“ wahrnehmen, obwohl sie selbst alte Leute sind.“
Der Rollator - Fluch oder Segen
Manche Senioren nehmen den Stock, manche vertrauen auf einen Rollator. „Es war nichts zu machen, der Rollator wurde ihr ‚best friend‘ “, schreibt Kester Schlenz. „Ich hasste das Ding vom ersten Tag an.“ Aus seiner Sicht verhindert der Rollator, dass Menschen, die eigentlich noch fit sind, vorschnell altern. Seine Mutter besaß schließlich drei davon und freute sich darüber: Sie eroberte sich per Rollator ganz viel Freiheit, denn nun konnte sie allein zum Einkaufen gehen.
Katja Jungwirth hatte für ihre schwache Mutter einen Rollstuhl besorgt, um Ausfahrten machen zu können; sie freute sich schon sehr darauf: „Kein ängstliches, an meinen Arm geklammertes langsames Spazierengehen, sondern ein flottes Marschieren, die Mutter warm, sicher und wohlbehalten vor mich herschiebend.“ Doch die Mutter lehnt den Rollstuhl ab. Als Kompromiss bleibt der Rollator. „Sie traut sich mit dem Rollator auf die Straße. Geschickt manövriert sie das Gefährt an den abgeflachten Gehsteigkanten über die Fahrbahn. Sie rast, und ich komme, den alten Hund hinter mir herziehend, kaum hinterher.“ Leider geht sie damit nicht ins Kaffeehaus. „Wo soll ich das blöde Ding da abstellen?“
Die Tochter kann es nicht verstehen. „Das blöde Ding schenkt ihr ganz viel Beweglichkeit und auch Freiheit, aber sie geniert sich.“ Die Mutter bleibt stur. „Ich soll viele Hürden für sie bewältigen, Entscheidungen treffen, Hindernisse aus dem Weg räumen. Aber letztlich ist sie eine eigenständige Person. Diesen Balanceakt zwischen meiner ständigen Verfügbarkeit und Hilfestellung und Mutters starkem eigenen Willen muss ich noch üben“, schreibt Jungwirth.
Der Notfallknopf
Mutter Schlenz ist in ihrer neuen Wohnung gefallen, die Nachbarin hört sie rufen, benachrichtigt die Verwandten. Beide Söhne fahren hin, schauen nach der Mutter, helfen ihr hoch. Sie war hintenübergefallen, ist aber nicht verletzt. Die Familie organisiert eine Hausnotruf-Vorrichtung beim Deutschen Roten Kreuz. Den Funksender am Armband soll die Mutter Tag und Nacht tragen. Der Notruf ist mit dem Lautsprecher an der Teilnehmerstation verbunden, wenn der Knopf gedrückt wird, kann das Rote Kreuz nachfragen, was los ist. „Nun waren wir alle gleich ein wenig beruhigter“, schreibt Kester Schlenz.
Doch die Mutter baut unbemerkt von den Kindern weiter ab, sie kann sich kaum zur Tür schleppen, um dem Essen- auf-Rädern-Mann zu öffnen. Nach einem Krankenhausaufenthalt aufgrund ihrer Verwirrtheit wegen Dehydrierung war Brustkrebs diagnostiziert worden, anschließend wartet sie zu Hause auf den Start der Chemotherapie.
Eines Tages ruft eine Dame vom DRK bei Kester Schlenz an. So gehe es nicht weiter. „Dass ihre Mutter uns ständig mit dem Notfallknopf ruft und wir sie vom Boden oder aus irgendwelchen Ecken aufklauben. Die Dame gehört in ein Krankenhaus.“ Mutter hat den Knopf gedrückt? Mehrfach! Sie war wieder gefallen? Mehrfach! Der Hausarzt rät, endlich einen Platz in der Kurzzeitpflege zu suchen, denn Mutter Schlenz muss aufgepäppelt werden, um die bevorstehende Chemotherapie zu überstehen.
Die Kurzzeitpflege
Traute Schlenz bekommt einen Platz in der Kurzzeitpflege, für die Kinder ist das eine große Erleichterung. „Mutti lebte sich schnell ein im Heim. Sie war zwar immer noch ziemlich wackelig, aber weil sie nun genug trank und aß, nie zu viele Medikamente nahm und regelmäßigen Kontakt zu anderen Menschen hatte, ging es ihr von Tag zu Tag besser. Die erste Chemotherapie hatte sie gut vertragen.“
Katja Jungwirths Mutter bekommt im Krankenhaus eine Infusion gegen Schmerzen. In den Entlassungspapieren steht, sie sei mangelernährt, obwohl die Tochter täglich ein Essen vorbeibringt. Katja Jungwirth meint, die Mutter möge sich in einem Sanatorium aufpäppeln lassen. Die Mutter sagt: „Weißt du, ich möchte möglichst lange meine Unabhängigkeit behalten.“ Katja Jungwirth schreibt: „Ich schreie, innerlich laut, ins Telefon etwas leiser: Deine Unabhängigkeit ist abhängig von uns, von mir. Du bist nicht unabhängig!“ Es belastet die Tochter, sich stets zu überlegen, was die Mutter wohl essen mag, wer einkaufen gehen wird, ob sie genug Besuch hat.
Geschwister
Traute Schlenz hat drei Kinder, die Tochter lebt weit entfernt in Süddeutschland, die Söhne in Hamburg. Die Brüder telefonieren jetzt wieder öfter, seit es ihrer Mutter schlecht geht. „Tatsächlich kann das gemeinsame Kümmern und die pflegebedürftigen Eltern Geschwister zusammenschweißen“, schreibt Kester Schlenz. „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“
Katja Jungwirth dagegen wünscht sich mehr Entlastung. Sie hat vier Kinder und ein Enkelkind, das vom Kindergarten abgeholt werden muss. Doch die Mutter ist eifersüchtig auf die Enkel: „Sie sind ja eh fast alle erwachsen, die schaffen das schon alleine. Misch dich nicht immer ein.“ Ihre große Sorge ist, ob die Tochter genug Zeit für sie hat. Im Haus nebenan wohnt Katja Jungwirths kinderloser Bruder. Doch er soll nach dem Willen der Mutter nicht gefragt werden. Ob die Tochter, die weiter entfernt wohnt, Medikamente besorgen kann? Der Bruder habe eine Sitzung im Büro. Und er habe doch am Wochenende schon Freizeit geopfert. „Ich kann ihn jetzt wirklich nicht belästigen“, sagt die Mutter.
Andrea Kolhoff
Literaturtipps: Kester Schlenz, Mutti baut ab. Wenn Eltern alt werden. Mosaik Verlag, 12 Euro. - Katja Jungwirth, Meine Mutter, das Alter und ich. Verlag Kremayr & Scheriau Wien. 22 Euro
Und wo bleibt der Dank?
Der Mediziner Elmar Gräßel hat einen Fragebogen entwickelt, mit dem er die Zufriedenheit pflegender Angehöriger erfragt. Mit dieser Häusliche-Pflege-Skala (HPS) schätzen die Betreffenden den Grad ihrer Belastung ein. Wer die Situation negativ bewertet, entwickele schneller Stresssymptome, wer sie positiv betrachtet, halte länger durch, schreibt Birgit Lambers in ihrem Buch „Wenn die Eltern plötzlich alt sind“, in dem sie Tipps gibt, um mit der Pflegesituation umzugehen. Einer davon ist: Sie können ihre alten Eltern nicht ändern, aber Ihre eigene Einstellung zu ihnen.
Wovon hängt die Zufriedenheit der Pflegenden ab? Unter den Herausforderungen, die für Pflegende besonders belastend sind, wurden genannt: „Geduldig sein und gegebenenfalls immer wieder dasselbe sagen“, „krankheitsbedingte Wesensveränderung oder Aggressivität der Eltern“ und „Fehlen von Dankbarkeit“. Das erklärt, warum es für viele Erwachsene, die sich um ihre Eltern kümmern, schwer ist, den Generationenvertrag zu erfüllen und die Pflege fröhlich und unbeschadet zu absolvieren.
Birgit Lambers beschreibt in ihrem Buch viele Frauen und Männer aus der Generation der Mittfünfziger, die berufstätig sind und noch Kinder erziehen, während sie sich um ihre Eltern sorgen, sowie Beispiele von Menschen, die selbst schon Mitte sechzig sind, sich aber um hochbetagte Eltern kümmern. Im schlimmsten Fall pflegt eine Frau zunächst die Mutter, dann den Ehemann, der einen Schlaganfall erlitt.
Birgit Lambers zeigt Empathie für die erwachsenen Kinder, wirbt aber auch um Verständnis für die Eltern, deren Kräfte nachlassen und sich ein eigenständiges Leben wünschen. Sollen ihre Kinder ihnen vorschreiben, sie müssten sich öfter waschen? „Wir haben keinen Erziehungsauftrag, auch nicht bei zunehmender Hilfsbedürftigkeit unserer Eltern“, schreibt Lambers. Besser sei es, Hilfe durch Ärzte und Pflegedienste ins Boot zu holen.
Als Kind könne man versuchen, eine andere Einstellung zum Beispiel zur Langsamkeit zu entwickeln, von der sich gestresste Menschen ausgebremst fühlen. Lambers schreibt auch, welche Grenzen es gibt: „Das können wir nicht: unsere Eltern vor Krankheit, Leid und Schmerzen bewahren. Ihnen ein erfülltes Leben bieten. Ihren Hunger nach Liebe und Anerkennung kompensieren.“
Buchtipp: Birgit Lambers, Wenn die Eltern plötzlich alt sind, Wiwe wir hnen helfen können, ohne uns selbst zu überfordern,
Kösel-Verlag, 18 Euro