Andrea Weinhold-Klotzbach will den Ungehörten eine Stimme geben

„Wenn niemand da ist, fehlt der Halt“

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Er nimmt auf die arme rechtlose Witwe keine Rücksicht: der Richter, von dem Jesus im Evangelium erzählt. So erleben es zum Beispiel auch Obdachlose: Um ihre Belange kümmert sich keiner. Wie gut, dass es Menschen gibt, die ihnen zu ihrem Recht verhelfen. Menschen wie Andrea Weinhold-Klotzbach und ihr Verein StiDU.

Foto: imago/Michael Gestettenbauer
Obdachlose haben keine Lobby in der Gesellschaft. Deshalb können sie ihre Rechte oft nicht durchsetzen.
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Von Kerstin Ostendorf

Im Februar 2019 starb ein älterer obdachloser Mann an der Marktkirche in Hannover. Er hatte dort einige Tage an einem Nebeneingang des Gotteshauses campiert. Immer wieder boten Gemeindemitglieder und die Pastorin ihre Hilfe an, doch der Mann wollte seinen Platz nicht verlassen. Bei eisigen Temperaturen ist er in einer Nacht dort erfroren. „Dass ein Mann in Deutschland auf der Straße sterben muss, ist schrecklich“, sagt Andrea Weinhold-Klotzbach. Damals sei ein Ruck durch die Stadtgesellschaft von Hannover gegangen. „Allen war klar, dass so etwas nicht noch einmal passieren soll.“

Gemeinsam mit weiteren Ehrenamtlichen gründete sie den Verein StiDU – Stimme der UngeHÖRTen. „Obdachlose haben keine Lobby in unserer Gesellschaft“, sagt sie. „Es gibt niemanden, an den sie sich wenden können, keine Verbände oder Vertretungen.“ Mit ihrem Engagement will sie das verändern. Sie will den Ungehörten eine Stimme geben.

Warum einer armen Witwe helfen?

Ungehört ist auch die Witwe im Evangelium an diesem Sonntag. Sie fordert den Richter auf, ihr zu ihrem Recht zu verhelfen. Doch er beachtet sie nicht. Warum sollte er einer armen Witwe helfen? Was bringt es ihm? Bestimmt keinen Ruhm und kein Ansehen, womöglich nicht einmal ausreichenden Lohn. Doch die Witwe bleibt hartnäckig. Immer wieder geht sie zum Richter und fordert seine Hilfe ein. Schließlich gibt er nach – aber nicht, weil er der Frau helfen möchte, sondern einzig, weil sie ihn nervt und er eine öffentliche Bloßstellung fürchtet.
 
Hartnäckig bleiben – diesen Mut haben viele Obdachlose nicht. „Viele wissen, was ihnen zusteht, aber wenn Hartz IV oder andere Leistungen gestrichen werden, sind sie ratlos“, sagt Weinhold-Klotzbach. Für Obdachlose sei es schwieriger, Ansprüche durchzusetzen, auch weil oft juristischer Rat nötig sei. 

„In eine Anwaltskanzlei oder Beratungsstelle gehen? Viele trauen sich nicht einmal zu einem Arzt“, sagt Weinhold-Klotzbach. Die Hemmungen seien einfach zu groß: Obdachlose sind nicht gerne gesehen, werden schief angeschaut. „Und viele Obdachlose denken: Das bringt ja eh nichts, mir glaubt ja keiner“, sagt die 49-Jährige. Der Verein StiDU möchte ihnen die Möglichkeit geben, das zu bekommen, was ihnen zusteht.

Man muss immer beide Seiten hören

Gestartet ist StiDU im März 2020 – nur wenige Tage vor dem ersten Corona-Lockdown. „Da mussten wir die Idee, eine Ombudsstelle für Obdachlose zu sein und juristische Einzelfallhilfe zu leisten, erst einmal hintanstellen“, sagt Weinhold-Klotzbach. Damals mussten Suppenküchen und Tagesaufenthalte für Obdachlose wegen des Virus von jetzt auf gleich schließen. „Die Strukturen der Obdachlosenhilfe brachen zusammen. Da mussten wir erst einmal schauen, wie wir den Menschen wieder warme Mahlzeiten anbieten konnten“, sagt sie. Sie schrieben an Politik und Verwaltung, organisierten später Impfungen für Obdachlose und erweiterten in den vergangenen Monaten den Tagestreff der Caritas in den Räumen der Propstei St. Clemens.

Nun möchte sich der Verein wieder stärker der Gründungsidee widmen. Der Schatzmeister des Vereins, der zugleich Anwalt im Sozialrecht ist, bietet zum Beispiel wöchentlich Sprechstunden im Tagestreff der Caritas an, um Obdachlose zu beraten. So kam eine Frau zu ihnen, die sich in einer Unterkunft schlecht behandelt fühlte. „Sie sagte, das Sicherheitspersonal habe sie diskriminiert und von oben herab behandelt“, sagt Weinhold-Klotzbach. „Da waren wir vor Ort und haben das Gespräch gesucht und konnten das klären. Es ist wie vor Gericht: Man muss beide Seiten hören.“

Häufig gehe es darum, Kompromisse zu finden. Zum Beispiel als eine obdachlose Frau in der Corona-Zeit in einem Hotel untergebracht war. „Nach einem Vorfall sollte sie ihr Zimmer sofort räumen“, sagt Weinhold-Klotzbach. „Auch da haben wir mit allen Beteiligten gesprochen.“ Letztlich habe die Frau zwar ausziehen müssen, aber sie habe eine Frist von einer Woche bekommen. „So stand sie nicht von jetzt auf gleich wieder auf der Straße.“

Ausgezeichnetes Engagement

Für sein Engagement ist der Verein nun mit dem Julius-Rumpf-Preis ausgezeichnet worden. Damit werden seit 2008 Projekte geehrt, die Lücken im staatlichen System zeigen und sich für eine demokratische Alltagskultur einsetzen. Die Ehrenamtlichen von StiDU möchten den Menschen Mut machen, dass sie ihr Recht bekommen können.
 
Grundsätzlich seien die Obdachlosen für ihren Einsatz sehr dankbar, sagt Weinhold-Klotzbach. „Sie freuen sich, dass sie ernst genommen werden. Dass jemand ihre Sorgen sieht und sich darum kümmert.“ Aber natürlich steht am Ende einer Beratung nicht immer das gewünschte Ergebnis. „Das zu trennen, fällt manchen dann auch schwer“, sagt Weinhold-Klotzbach. So setzte sie sich für einen obdachlosen Mann ein, dem das Ordnungsamt den Hund weggenommen hatte. „Wie sich aber herausstellte, völlig zurecht: Es war ein gefährlicher Kampfhund und der Mann hat sich nicht an Auflagen gehalten“, sagt die Juristin. „Dennoch: Er hatte das Recht, dass das unabhängig geprüft wird.“

Dieses Recht hat auch die Witwe im Evangelium an diesem Sonntag für sich in Anspruch genommen. Weinhold-Klotzbach aber möchte mit ihrem Engagement noch mehr erreichen: Sie möchte das Bild der Obdachlosen in der Gesellschaft verändern. „Viele denken, die Menschen sind selbst schuld an ihrem Schicksal und das seien eh alles Säufer“, sagt Weinhold-Klotzbach. Aber die Umstände, dass Menschen auf der Straße landen, sind viel facettenreicher: Krankheit, Kündigung, Tod eines Partners. „Viele Obdachlose haben Brüche in ihrem Leben. Wir haben vielleicht das Glück, ein gutes Umfeld und eine intakte Familie zu haben. Aber wenn da niemand ist, fehlt der Halt.“