Aktion von Sant'Egidio in Bremen
Wie ein großes Freiluftrestaurant
Seit Beginn der Pandemie hat die Gemeinschaft Sant’Egidio rund 30 000 Mahlzeiten an Obdachlose in Bremen verteilt. Martin Schürenberg, einer der Helfer, erzählt von besonderen Freundschaften und Gebeten auf der Straße.
Die Armen der Stadt kennenlernen und sie als Freunde in unser Leben einschließen: So verstehen wir als Gemeinschaft Sant’Egidio unseren Dienst für die Obdachlosen. Ein Jahr vor der Corona-Pandemie haben wir begonnen, mit einem Bollerwagen Kaffee und Brötchen zu verteilen. Als der erste Lockdown kam, verschärfte sich die Lage: Bettler verloren ihre Einnahmequelle, und viele Versorgungsangebote schlossen ihre Türen, weil Hygienekonzepte nicht umsetzbar waren oder weil ältere ehrenamtliche Helfer selbst zur Risikogruppe gehörten.
Wir wollten uns nicht auch noch zurückziehen, sondern haben jeden Samstag auf der Bürgerweide hinter dem Bahnhof warme Mahlzeiten verteilt. Wir gründeten ein großes Freiluftrestaurant: Steinquader wurden zu Tischen und Stühlen, und wir bedienten unsere Gäste am Platz. Es war ein bisschen wie bei der Brotvermehrung. Wir rechneten mit etwa 50 Menschen, aber es kamen 150. Da standen wir dann, zu acht und ohne Masterplan. Aber indem wir einfach loslegten und das verteilten, was wir hatten, wurde andere auf uns aufmerksam.
50 bis 60 Helferinnen und Helfer haben sich uns bis heute angeschlossen, Familien, die regelmäßig Essen kochen, Personen, die das Essen zum Treffpunkt bringen und verteilen, junge und alte, Nichtchristen und Christen aller Konfessionen. Aber auch die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen, Gemeinden und Gemeinschaften prägt mittlerweile unsere Essensausgabe. Das macht aus vielen Ichs ein großes Wir. Besonders schön ist, dass uns auch die Armen selbst helfen. Ihr größtes Problem ist ja, dass ihnen niemand eine Aufgabe gibt. Wir geben jedem eine Aufgabe, egal, ob es ein Zahnarzt ist, der interessiert nachfragt, oder jemand, der in der Schlange der Bedürftigen steht. Macht die Türen auf, geht raus! Daran erinnert uns auch Papst Franziskus. Wir nehmen das eben wörtlich und gehen zum Bremer Hauptbahnhof. Das Evangelium ist lebendig, wie bei der Brotvermehrung.
„Für einige Freunde können wir alles ändern“
Freunde – das sind Menschen, mit denen man viel gemeinsam hat. Aber die Freundschaft des Evangeliums ist größer: Wir können uns auch mit Menschen verbinden, die wir uns normalerweise nicht als Freunde aussuchen würden. Und daraus ergeben sich oft sehr schöne Geschichten. Wie die unserer Freundin Simone. Seitdem wir sie kennen, übernachtet sie immer vor dem Bahnhof, auch bei Regen und Kälte. Sie trinkt nicht, sie nimmt keine Drogen, aber sie ist psychisch krank und geht in keine Notunterkunft. Wir haben alles versucht, um sie zu überreden. Vergeblich.
Doch es gibt eine Idee. Wir suchen gerade nach einem Raum, um dort für Simone zu kochen, und wir hoffen, dass sie uns begleitet, sie vertraut uns. Nach dem Essen wird dann ein Bett für sie bereitstehen. Ob sie das Angebot annimmt? Wir wissen es nicht. Es bleibt ein Abenteuer. Wir können nicht das Leben aller armen Freunde ändern, aber wir können für einige dieser Freunde alles ändern. Und bei Simone haben wir dieses Gefühl.
Viele Obdachlose kommen aus Osteuropa – vor allem aus Polen. Sie sind oft suchtkrank und auf ihrer Arbeitssuche gestrandet. Diese Kontakte, verbunden mit seelsorglichen Angeboten, wollen wir vertiefen. Warum? Auch dazu gibt es eine Geschichte. Eines Tages fragten uns polnische Obdachlose, mit denen wir uns angefreundet haben, ob wir mit ihnen beten könnten. Wir sprachen ein Vaterunser und einen Segen. Bei der nächsten Essensausgabe bekamen wir mit, dass diese Gruppe um zwei Freunde trauerte. Wenige Tage später hielten wir für die Verstorbenen ein Requiem auf der Straße. Es war ein kalter und nasser Abend, aber 20 Menschen waren da.
Wir stellten unsere Ikone auf, eine Frau aus unserer Gemeinde, eine Polin, übersetzte, und wir lasen das Evangelium von den himmlischen Wohnungen (Johannes 14, 1-3). Ich habe dieses Evangelium schon oft gehört, aber seine Strahlkraft entfaltete es erst auf der Straße, bei denen, die keine Wohnung haben. Wir hatten alle Tränen in den Augen.
„Projekte gehen zu Ende, wir machen weiter“
Viele fragen uns, ob die Essensausgabe ein Projekt sei. Nein, ist es nicht. Projekte gehen zu Ende. Wir machen weiter. Warum sollten wir aufhören, wenn 300 arme Leute kommen und so viele Helfer? Das wäre ja so, als schließe man eine lebendige Gemeinde. Vielmehr denken wir daran, unseren Dienst noch auszuweiten.
Weihnachten haben wir alle in der Kirche Unser Lieben Frauen gefeiert: wir als katholische Gemeinschaft, Baptisten, orthodoxe und evangelische Christen, sogar Muslime – 150 arme Menschen und 60 Helfer. Wir sind mit einer besonderen Botschaft auf der Straße unterwegs: „Alles kann sich ändern. Du bist kein hoffnungsloser Fall.“ Das sprechen wir nicht immer aus, drücken es aber in unserer Freundschaft aus.
aufgezeichnet von Anja Sabel
Zur Sache
Sant’Egidio: Die Gemeinschaft Sant’Egidio ist eine internationale, christliche Gemeinschaft von Laien, die ihren Glauben auf konkrete Weise leben möchte. Grundlagen sind das Gebet, die Freundschaft mit den Armen, die Weitergabe des Evangeliums, die Ökumene, die Arbeit für den Frieden und der interreligiöse Dialog.
Essensausgabe: Die Essensausgabe für die Menschen auf der Straße beginnt immer samstags um 11.30 Uhr vor dem Cinemaxx-Kino in Bremen (Nähe Hauptbahnhof). Wer mithelfen möchte, Essen oder auch Geld spenden, kann sich bei Kerstin und Martin Schürenberg melden, E-Mail: santegidio.hb@gmail.com, Telefon 01 76/72 27 65 87.
Abendgebet: Jeden Dienstag um 19 Uhr findet in der St.-Ursula-Kirche, Schwachhauser Heerstraße/Ecke Emmastraße, ein Abendgebet von Sant’Egidio statt.