Soziologe Gert Pickel über Religion in Zeiten von Corona
"Wie ein Sicherheitsnetz"
Wie können wir mit der Corona-Pandemie fertigwerden? Wie wird die Welt danach aussehen? - Das sind nur ein paar Fragen, die sich zahllose Menschen derzeit stellen. Krisenzeiten haben stets auch die Sinnsuche verstärkt, sagt der Religionssoziologe Gert Pickel. Im Interview spricht er über Herausforderungen und Möglichkeiten für die Kirchen.
Herr Professor Pickel, beobachten Sie momentan ein verstärktes Interesse an Religion und Glaube?
Empirische Forschung dazu ist momentan schwierig. Aber die Erfahrung zeigt, dass dieses Interesse in Krisenzeiten wächst. Religion bietet eine Möglichkeit zur sogenannten Kontingenzbewältigung, also zum Umgang mit Unsicherheit. Das gilt vor allem für Menschen, die noch einen Anschluss an das Religiöse haben. Für überzeugte Atheisten in der zweiten Generation spendet Religion keine Sicherheit. Aber für religiöse Menschen oder für jene, die manchmal als "Sonntagschristen" bezeichnet werden, ist es eine Art Rückfallmöglichkeit. Man ist unsicher: Na ja, vielleicht hat sich der Großvater doch angesteckt - und in diesen Momenten greift man gern auf den Glauben zurück.
Wenn mehr Leute in Gottesdienste gehen als in Fußballstadien, geschieht das weitgehend unbemerkt. Wenn aber Gottesdienste ausfallen, ist das ein Thema - warum?
Religion ist ein sehr soziales Phänomen; Gottesdienste sind das Zentrum kirchlichen Lebens. Zudem lebt Kirche von dem, was sich um Gottesdienste herum abspielt: Gemeindetreffen, Bibelkreise, also alle Veranstaltungen, die jetzt nicht möglich sind. Die Frage ist: Funktioniert Religion noch, wenn sich die Gläubigen nicht treffen? Mit der Live-Übertragung eines Gottesdienstes wächst nicht die Gemeinsamkeit mit anderen. Man kann sich vorstellen, dass auch andere gerade diesen, speziellen Gottesdienst im Internet anschauen, aber das ersetzt nicht wirklich das Gefühl des Zusammenseins.
Verunsichert das den einzelnen Gläubigen - oder auch die Kirche als Ganzes?
Die großen Kirchen wissen nicht genau, was nach dieser Krisenzeit folgen wird. Wenn die Kirchen wieder öffnen, stürmen die Leute dann hinein, weil ihnen das Beisammensein gefehlt hat? Oder verstärken sich eher die Tendenzen der Distanzierung, die es seit Jahrzehnten gibt? Die Menschen könnten ja auch merken, dass ihnen nichts fehlt, wenn sie nicht in den Gottesdienst gehen.
Zu welcher Prognose neigen Sie?
Ich denke, dass viele sich nach dieser Unsicherheitsphase für die sozialen Möglichkeiten interessieren werden, die Kirchen bieten. Dabei könnte sich allerdings der Fokus ein bisschen verschieben. Bisher sind die beiden großen Kirchen immer noch stark auf Gottesdienste fokussiert. Das Wichtigste, was sie auch jetzt anbieten wollen, etwa online, sind Gottesdienste. Meine Vermutung ist jedoch, dass die kleinen Gesprächsrunden weit wichtiger sind und es noch werden: zum Beispiel der Kaffee nach dem Gottesdienst, die gemeinsame Betreuung von Geflüchteten oder der Bibelkreis.
Warum?
In diesen sozialen Kreisen kann jeder über eigene Sorgen und Probleme sprechen. Das wird stark nachgefragt werden, weil die Aussprache über die aktuelle Situation immer wichtiger wird - je länger sie andauert. Vielleicht hat sich ein Angehöriger angesteckt, vielleicht muss die eigene Hochzeit verschoben werden. Solche Probleme werden eher in Seelsorge-Gesprächen angesprochen als in Gottesdiensten - oder eben bei den sozialen Zusammenkünften im Umfeld der Kirche besprochen. Das zeigt sich aktuell bei der Telefonseelsorge oder den Corona-Hotlines, die manche Gemeinden anbieten.
Reagieren die Kirchen auf diesen Bedarf angemessen?
Sie versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Einen gewissen Schub gibt es eindeutig bei digitalen Angeboten. Zudem sind viele Menschen im sozialen Bereich engagiert, etwa bei Caritas und Diakonie - und setzen sich momentan sehr für die besonders gefährdeten Gruppen ein. Dieser Einsatz für den Menschen gewinnt an Bedeutung.
Wo sehen Sie noch Luft nach oben?
In punkto Gesprächsangeboten könnte man sicher überlegen, ob sich mehr Online-Formate anbieten, etwa via Skype. Einzelne Pfarrer kommunizieren auf solchen Wegen. Das könnte sich auch über die aktuelle Krise hinaus lohnen: Schließlich sind wir keine besonders junge Gesellschaft. Wenn Menschen nicht mehr mobil sind, aber trotzdem an einem Gesprächskreis teilnehmen wollen, lässt sich der aktuelle Schub vielleicht nutzen, um ihnen digital etwas anzubieten.
Also könnte die Krise auch zu einer Chance für die Kirchen werden?
Krisenphasen bieten immer Möglichkeiten. Die Virologen erklären uns auf medizinischer Ebene sehr gut, was geschieht. Nichtsdestotrotz bleiben Fragen: Warum kommt das jetzt? Warum geschieht das überhaupt? Und wieso trifft es meine Familie? - Dafür gibt es keine rationalen Erklärungen. Zudem ist das Virus unsichtbar, und solche Gefahren erfordern etwas, das über das Rationale hinaus geht. In diesem Zusammenhang sind religiöse Angebote ausgesprochen attraktiv. Zudem erwarten die Menschen von der Kirche eine gewisse Fürsorge.
Könnten auch ganz neuartige religiöse Strömungen entstehen?
Generell ist das immer möglich. Am ehesten zu beobachten ist das bislang bei apokalyptischen Deutungsmustern: die Pandemie als Strafe Gottes. Etwa in Lateinamerika haben sich Anhänger der evangelikalen Pfingstkirchen geweigert, auseinanderzugehen, weil sie meinten, der göttliche Fluch werde sie nicht treffen. Die meisten Menschen werden in schwierigen Phasen aber eher auf eine sichere Basis, also die erlernte Religiosität, zurückgreifen. Für Menschen, die etwa in der Jugend noch eine Bindung an Religion hatten, kann sie jetzt wie ein Sicherheitsnetz wirken.
kna