Buch zum Konzentrationslager Börgermoor
Wie tief können Menschen sinken?
Foto: Petra Diek-Münchow
„Schauen Sie mal hier, das habe ich mir extra aus den USA schicken lassen.“ Ewald Mescher fischt aus dem Berg von Papier einen Zeitungsausschnitt heraus – aus der „Times“, in dem Ende 1933 vom „Concentration camp“ (Konzentrationslager) Börgermoor berichtet wird. „So früh schon“, sagt er nachdenklich. Börgermoor – das war eins der 15 „Emslandlager“, in dem die Nationalsozialisten bereits ab Juni 1933 vor allem politische Gegner inhaftieren und durch Zwangsarbeit im Moor drangsalieren und töten. Hier ist das „Lied der Moorsoldaten“ entstanden, eines der auch weltweit bekanntesten Widerstandslieder.
Über das Leid der Häftlinge und die Geschichte des Lagers hat Ewald Mescher acht Jahre lang im Internet, in der Literatur, in Dokumenten, in Briefen, in Archiven geforscht und dabei Berge von Material gesammelt. Viele Aktenordner, alte Fotos und vergilbte Formulare türmen sich bei ihm zu Hause auf. Sich dort hineinzugraben, manches noch mal neu zu durchleuchten und zu hinterfragen, das hat ihn angetrieben. „Ich wollte einfach die Originale sehen“, beschreibt er seine akribische Suche, bei der er oft stundenlang Unterlagen gesichtet hat. Das meiste davon findet sich in einem 640 Seiten starken Buch wieder, das der frühere Jugendreferent im Bistum Osnabrück kürzlich über Börgermoor geschrieben hat –nach eigener Einschätzung eins der bis jetzt umfangreichsten Werke über das „Lager I“.
„Mit der Schüppe“ mussten die Häftlinge das Moor kultivieren
„Ich wollte einfach wissen, was hier bei uns in der Gegend in der Nazizeit wirklich los gewesen ist“, bringt der 76-Jährige seine Motivation ganz prägnant auf den Punkt. Aber es steht auch eine persönliche Geschichte dahinter, denn Ewald Mescher ist ab 1948 im nördlichen Emsland genau dort aufgewachsen, wo die Gefangenen „mit der Schüppe“ das moorige Land kultivieren mussten: mit Schlägen und Drohungen, bei jedem Wetter, mit quälendem Hunger im Bauch und ständiger Angst. Mescher zeigt mit dem Finger auf eine Landkarte, „da stand mein Elternhaus und da war das Lager I“. Noch immer ist seiner Ansicht nach über „Börgermoor“ auch in der Region zu wenig bekannt – über den frühen Aufbau und Betrieb, über das Leben und die Schicksale der Opfer, über das Verhalten der Wachmannschaften. Wie in einem Mosaik hat er dazu chronologisch Teil für Teil zusammengefügt – und bei Recherche oft genug in Abgründe geschaut. „Wie tief können Menschen eigentlich sinken?“, sagt er und wirkt auch nach Erscheinen seines Buches nach wie vor betroffen. „Mir sind manchmal die Tränen über das Gesicht gelaufen.“
Dass Ewald Mescher in seinem Buch über einige Lagerpfarrer und inhaftierte Priester berichtet, hängt nach eigenem Bekunden auch mit seiner beruflichen Laufbahn in der Kirche zusammen. „Das hat mich natürlich interessiert.“ Nach dem Schulunterricht durch Hiltruper Missionare im Sauerland, dem Besuch der Kunstakademie in Düsseldorf und Zivildienst an einem Krankenhaus in Stade studiert er Sozialpädagogik in Freiburg und arbeitet danach mehrere Jahre in Mannheim als Sekretär der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ). „Das passte damals genau für mich“, erinnert er sich gern an diese Zeit der späten siebziger und frühen achtziger Jahre. Für junge Leute Bildungsarbeit organisieren, über den Tellerrand schauen, sich international vernetzen, offen über und in Kirche diskutieren, Menschen und ihre Geschichte(n) im Blick haben: Das macht ihm Freude, das liebt er.
Und passt dann gut zu seinem familiär gewünschten Wechsel 1983 zurück ins Heimatbistum Osnabrück. Dort übernimmt er im nördlichen Emsland die Stelle des Dekanatsjugendreferenten. Bis zum Ruhestand 2011 begleitet Ewald Mescher Generationen von Gruppenleiterinnen und -leitern – und freut sich, wenn er die eine oder den anderen heute wieder trifft. Mit einem breiten Lächeln im Gesicht erzählt er von Leiterrunden, Jugendkreuzwegen, Gottesdiensten, Debatten bis spät in den Abend über Gott und die Welt. Nah an den jungen Leuten zu sein, ein offenes Wort zu haben und zugleich zu akzeptieren, das ist ihm immer wichtiger als manche Statuten.
Es kommt heute wieder auf jeden Einzelnen an
Wie in seiner aktiven Zeit treibt ihn dabei auch heute der Zustand der Kirche um. Aber manche Diskussionen ist er fast leid, weil er keinen Grund mehr dafür sieht. „Warum müssen wir überhaupt noch fragen, ob Frauen Priesterin werden dürfen?“ Für ihn spricht nichts dagegen. Und er wird dann wieder nachdenklich; „Die Kirche ist wohl noch nicht weit genug unten, um endlich einsichtig zu werden.“ Das klingt resignierter, als er wirklich ist, denn Mescher findet persönlich seine Oasen in den Kirchengemeinden vor Ort. „Es gibt so viele gute Laien und auch Priester, die die Botschaft und das Evangelium ‘rüberbringen.“
Eine Oase, das ist auch die Heimatforschung, für die der Emsländer vor allem im Ruhestand eine Leidenschaft entwickelt hat. Vor dem Buch über Börgermoor hat er bereits andere Chroniken verfasst. Sein umfassendes Werk über das Lager beschäftigt ihn aber weiter, denn es geht darin auch um das Thema Erinnerungskultur. Und wenn er sich die Nachrichten über zunehmenden Rechtsextremismus und die Erfolge von Rechtspopulisten anschaut, wird er sehr konsequent. „Hitler hat damals nicht die Macht ergriffen, er ist dahin getragen worden. Es kommt heute wieder auf jeden Einzelnen an. Jede Stimme ist existenziell wichtig in einer Demokratie“, sagt er fast beschwörend. „Wenn jemand jetzt die AfD wählt, muss er auch auf das Programm gucken und sich über die Konsequenzen im Klaren sein.“
Info
„Blumen vor der Hölle“ heißt das Buch von Ewald Mescher über das „Lager I“ in Börgermoor, Herausgeber ist der Heimatverein Surwold. Die erste Ausgabe ist ausverkauft, eine zweite ist angedacht. Für eine Warteliste kann man sich auf der Homepage eintragen: www.blumenvorderhoelle.de
Wenn Sie mehr über die "Emslandlager" erfahren möchten, lesen Sie unseren Artikel zur Gedenkstätte Esterwegen.