Lässt sich Gott noch so finden wie „früher“? Eine Online-Tagung

Wie und wo heute Gott suchen?

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Lässt sich Gott noch so finden wie „früher“? Entzieht die Kirche den Menschen Gott oder entzieht er sich selbst? Eine Online-Tagung der Katholischen Akademie Dresden und der Fokolarbewegung ging diesen Fragen nach.

Wenn das katholische Aquarium ein Leck hat ...
Der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers hat seine Kirchen-Biografie für die Tagungsteilnehmer in dieses Bild gefasst: „Ich bin in einem katholischen Aquarium groß geworden. Dort war alles katholisch, das Gefäß und das Wasser, die Fische, Pflanzen, Steine ... Es gab keine Chance, nicht katholisch zu werden. Doch das Aquarium hat einen Riss bekommen, das Wasser fließt allmählich ab. Wenn die Fische jetzt überleben wollen, müssen sie ihre Atmung umstellen, von Kiemen- zur Lungenatmung.“
Vor der Aufgabe, anders atmen zu lernen, stehen die Christen im ganzen Land, deutete der Bischof sein Bild. In Ostdeutschland aber hätten die Katholiken bereits frühzeitig gelernt, in einem nichtkatholischen Umfeld katholisch zu atmen.
Die aktuelle Herausforderung sieht Heinrich Timmerevers darin, „Christus dort zu suchen, wo er vergessen ist und gar nicht mehr vermisst wird“.

 

Diskussionen über den Synodalen Weg suggerieren derzeit häufig ein Entweder-Oder: Lässt sich die gegenwärtige Krise der Kirche durch Strukturreformen heilen oder durch Bekehrung und spirituelle Vertiefung? Die Tagung „Wer und was, wenn ohne Gott?“ am 6. und 7. März war dagegen ein Bekenntnis zu einem gleichzeitigen und ineinander verwobenen „Sowohl als auch“. Innere und strukturelle Erneuerung gehören zusammen. Schließlich habe der Missbrauchsskandal in eine kirchliche Strukturkrise und in eine Glaubenskrise geführt, führte etwa die Erfurter Theologin Julia Knop den rund 300 Teilnehmern vor Augen. Nicht wenige Menschen seien in letzter Zeit gerade aus der Kirche ausgetreten, um ihren Glauben an Gott nicht zu verlieren.
Zugleich wurde während beider Veranstaltungstage deutlich: Sobald  sich Christen – wie es immer wieder geschieht – die Rettung der Kirche, ihrer Glaubwürdigkeit und ihrer vertrauten Gestalt zum vorrangigen Anliegen machen, haben sie das Wesentliche schon aus dem Blick verloren. Eine Kirche, die der Gottessehnsucht zu wenig Raum gebe, sei auch kein Ort mehr für moderne religiöse Suchbewegungen der Zeitgenossen. Die Dresdner Religionspädagogin und Betriebswirtschaftlerin Birte Platow nannte die Faszination durch Künstliche Intelligenz als ein Beispiel, wohin religiöse Suche heutzutage führen könne: Von jeher schrieben die Religionen Gott zu, allwissend, allgegenwärtig und allmächtig zu sein. Gegenwärtig verbinden viele Menschen diese Eigenschaften mit Künstlicher Intelligenz.

Mystikerinnen des 20. Jahrhundert als „Seismographen des Kommenden“: Während der Tagung wurden (von oben) Madeleine Delbrêl, Mutter Teresa und Chiara Lubich näher vorgestellt, die sich auf ihre Weise mit Gottferne und Gottverlassenheit auseinandersetzten.    Fotos: kna

Akademisch und spirituell zugleich
Die gemeinsame Tagung der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und der Fokolarbewegung unternahm den ungewöhnlichen Versuch, sich zugleich aus akademischer Distanz und persönlichem spirituellen Angerührt-Sein dem Wesentlichen der Kirche zuzuwenden: Gott. Dabei traten soziologische und theologische, philosophische, historische, künstlerische und naturwissenschaftliche Blickwinkel in Dialog miteinander und mit Akteuren des Synodalen Wegs. Ost- und westdeutsche, evangelische und katholische Biografien ließen etwas von der Vielfalt der Gottsuche im 21. Jahrhundert durchscheinen.
„Mit den Augen von gestern wird man Gott morgen möglicherweise nicht mehr erkennen“, gab der Dresdner Akademiedirektor Thomas Arnold in seinem Begrüßungs-Statement zu bedenken. Augenscheinlich befinde man sich gerade in einer der Umbruchzeiten, in der Gott den Modus seiner Anwesenheit verändere. Es gelte aber, zu unterscheiden, machte Bischof Heinrich Timmerevers deutlich: „Wo scheint sich Gott uns zu entziehen, und wo entziehen wir selbst uns Gott durch menschliches und kirchliches Versagen, wo verdunkeln wir das Bild Gottes für andere?“ Es lohne sich, auf der Suche nach Gott die Mystiker zur Kenntnis zu nehmen, empfahl der Bischof. Von jeher seien Mystiker „Seismographen des Kommenden“ gewesen.
Der in Rumänien lebende reformierte Theologe Stefan Tobler lenkte die Aufmerksamkeit insbesondere auf Madeleine Delbrêl, Mutter Teresa und Chiara Lubich, drei Mystikerinnen des 20. Jahrhunderts, für deren Spiritualität die Erfahrung von Abwesenheit und Ferne Gottes in unterschiedlicher Weise prägend war. Für Chiara Lubich zum Beispiel war der Schrei der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz eine Schlüsselszene ihres Glaubens und der Beziehung zwischen Gott und der Welt. Sie suchte Gott vor allem in den leidvollen Situationen, dort, wo er abwesend schien. Von absoluter Abwesenheit Gottes zu sprechen, könne sie nicht zusammen denken mit der Zusage Jesu „Ich bin bei euch alle Tage“, merkte Schwester Anna Mirjam Kaschner an, die Generalsekretärin der nordischen Bischofskonferenz. Sie frage sich zuweilen selbstkritisch, ob Gott sich zu entziehen scheine, weil sie ihn aus einer falschen, ihm nicht entsprechenden Motivation heraus suche. Sie habe den Eindruck, dass Gott sich entziehe, um seine Beziehung zum Menschen zu weiten. Wer ihn finden wolle, sollte man ihn um seiner selbst willen suchen.

Die Finsternis durchschreiten
„Wenn es Gott gibt, müssen wir ihn tiefer und gründlicher suchen als wir lange angenommen haben“, sagte der tschechische Religionsphilosoph Tomáš Halík in seinem Schlussreferat. Die religiösen Erschütterungen unserer Zeit könnten für den Glauben letztlich aber ein Segen sein. Wer die aktuelle Finsternis Gottes durchschreite, verliere manche Illusionen über Gott, aber nicht den Glauben selbst, ist er überzeugt. Die Geschichte der Religionen sei immer wieder von Auf und Ab geprägt worden. Es seien neue Varianten der Religionen und neue religiöse Phänomene entstanden. Es bewahrheite sich das Sprichwort „Man kann nie zweimal in den gleichen Fluss steigen“. So habe sich auch die Erwartung vieler Christen, nach dem Kommunismus zur früheren Gestalt des Christentums zurückzukehren, nicht erfüllt. Heute sei das erste Wort Gottes an den Menschen das Schweigen. Wer das zweite Wort wahrnehmen wolle, brauche Geduld. Und er solle sich fragen: „Liebe ich ihn? Das bedeutet: Will ich, dass er ist? Sehne ich mich nach ihm?“
Dass die Tagung mehr Fragen stellte als dass sie Antworten parat hatte, fand der Jesuitenpater Bernd Hagenkord, geistlicher Begleiter des Synodalen Weges, dem Thema durchaus angemessen. Ihm sei es sehr wichtig, nicht allzu schnell über die gewachsene Fremdheit Gottes hinwegzugehen, die auch er deutlich wahrnehme.

Von Dorothee Wanzek