Sommerserie des Kirchenboten (8)
Wiesen mit Riesenpotenzial
Fotos: Luzia Arlinghaus
Mit hochgekrempelten Hosenbeinen steht eine junge Mutter im Wasser. In einer Hand hält sie ihre Schuhe, mit der anderen stützt sie ihr Kind, das sie sich um den Bauch geschnallt hat. Sie steht einfach nur da, schaut aufs Meer, auf die Wiesen und zum Horizont. Normalerweise ist dort, wo sie steht, ein Spazierweg, doch heute ist Springflut: Dreimal im Monat steigt das Wasser höher als sonst und macht sich auch auf den höher gelegenen Salzwiesen breit. Die Flächen mit dem „Riesenpotenzial“, wie Annelie Hedden sagt. Sie ist Rangerin und führt Touristen durch den Langwarder Groden, einen Teil des Nationalparks Wattenmeer, an der Halbinsel Butjadingen.
Dort wurde 2014 der Sommerdeich geöffnet. Ein Deich, der ein paar hundert Meter vor dem Hauptdeich liegt und früher die Flut fernhalten sollte, damit die Wiesen zwischen den Deichen landwirtschaftlich genutzt werden konnten. Das funktionierte auch, allerdings auf Kosten der Salzwiesen und damit auch auf Kosten des Klimas.
Salzwiesen, natürliche Kohlenstoffspeicher
Salzwiesen sind der Übergang zwischen Watt und Festland. Bei Ebbe liegen sie trocken, bei Flut stehen sie unter Wasser. Ihr Potenzial für den Klimaschutz: Ähnlich wie Moore sind Salzwiesen in der Lage, Kohlenstoff zu speichern. Dadurch, dass die Salzwiesen 100- bis 300- mal im Jahr unter Wasser stehen, je nachdem wie hoch die Flut ist, bekommen Wurzeln und alte Pflanzenreste, die im Boden liegen, keinen Sauerstoff und können sich deshalb nicht zersetzen. Der Kohlenstoff in den Pflanzenresten bleibt im Boden. Anders als in Mooren, produzieren Salzwiesen deutlich weniger Methan, ein Gas, das noch viel klimaschädlicher ist als CO2. Denn das Sulfat im Meereswasser verdrängt die Mikroben, die das Methan produzieren.
„Salzwiesen und Mangroven speichern weltweit mehr Kohlenstoff als tropische Wälder“, erklärt Annelie Hedden. Denn Bäume können zwar CO2 in Sauerstoff umwandeln, aber wenn sie sterben, setzen sie wieder Kohlenstoff frei. Salzwiesen dagegen lagern die abgestorbenen Pflanzen ein und wachsen deshalb. Um wie viele Zentimeter pro Jahr sie genau wachsen, kann man nicht genau sagen, weil es sehr auf die Lage ankommt. Aber sie wachsen ungefähr mit dem Meeresspiegel.
Als 1933 der Sommerdeich gebaut wurde und das Meer aussperrte, gab es einen ähnlichen Effekt wie bei trockengelegten Mooren. Der Kohlenstoff und das Methan im Boden entweichen, werden zum Treibhausgas und schaden dem Klima.
„Je nachdem, wie oft die Fläche von Salzwasser überflutet wird, wachsen andere Pflanzen“, sagt Hedden und zeigt auf den Strandflieder. Eine Blume, die violett blüht und früher in Blumenkränze gebunden wurde, weil sie lange ihre Farbe behält. Heute ist sie geschützt. Niemand darf sie pflücken. „Wir sind in einem Nationalpark. Das ist der Ort, wo wir Menschen uns mal zurücknehmen. Die Natur steht an erster Stelle. Wir sind die Gäste und zertrampeln nicht einfach alles“, sagt die Rangerin.
Wenn sich der Mensch zurückzieht, holt sich die Natur ihren Raum ganz von selbst zurück. Nach der Öffnung des Sommerdeiches dauerte es nur wenige Jahre, bis sich die Salzwiesen wieder auf den ehemaligen landwirtschaftlichen Flächen ausbreiteten. „Die Salzwiesenpflanzen wurden nicht angepflanzt. Das Meer und die Vögel haben sie mitgebracht“, sagt Hedden. Die Nordsee, Ebbe und Flut sind Voraussetzung dafür, dass Salzwiesen bestehen können. Sie müssen regelmäßig überschwemmt werden, damit sie Kohlenstoff speichern können. Deshalb kann man sich auch keine Salzwiesenpflanzen in den Garten setzen und hoffen, dass sie CO2 speichern. Außerdem haben sich die Salzwiesenpflanzen genau auf ihr Ökosystem angepasst. In einem anderen Ökosystem, etwa im Garten „würden sie früher oder später von anderen Pflanzenarten verdrängt“, sagt Ella Logemann. Sie ist Biologin und forscht zu Salzwiesen.
Mit der Salzwiese sind nicht nur zahlreiche Pflanzen wiedergekommen, sondern auch Vogelarten. „Vor der Renaturierung waren auf den Flächen noch um die vier Rotschenkelpaare, die hier gebrütet haben. Jetzt sind es über 70 Brutpaare, die ihren Lebensraum gefunden haben“, erzählt Hedden. Sie schaut durch ihr Fernrohr, entdeckt etwas und lacht. Ein ganzer Schwarm von Austernfischern, kleine Vögel mit schwarz-weißem Gefieder, fliegt in der Luft hin und her und dreht sich um sich selbst. „Die Austernfischer sitzen eigentlich auf einem Stein, wenn die Flut kommt. Wegen der Springflut ist das Wasser jetzt aber so hoch gekommen, dass ihr Stein, also ihr Hochwasserrastplatz, unter Wasser steht. Jetzt wissen sie nicht so genau, wo sie hin sollen“, erklärt Hedden.
Außer, dass Salzwiesen Kohlenstoff speichern und zur Artenvielfalt beitragen, schützen sie auch die Küste. Vom Watt aus kann man sehen, dass die Flut schnell und in Wellen kommt. In den Salzwiesen klettert das Wasser langsamer hoch. Die Pflanzen bremsen die Wellen und verhindern dadurch, dass das Wasser den Deich erreicht. „Der Deichfuß muss trocken bleiben“, erklärt Hedden. Sonst könnte er aufweichen und irgendwann brechen, dann wäre die Halbinsel Butjadingen nicht mehr bewohnbar.
Künstlich angelegte Gräben, sogenannte Gröppen, sorgen dafür, dass der Deich trocken bleibt. Bei Google Maps kann man sehen, wie die Gröppen die Landschaft markieren. „Festlandsalzwiesen wurden alle landwirtschaftlich genutzt“, erklärt Biologin Logemann. Deshalb findet man dort alle zehn Meter einen Graben. „Aus Naturschutzsicht wäre es natürlich viel schöner, wenn die Gräben hier zu wären, damit wir mehr Wasser in der Fläche hätten“, sagt Hedden. Aber man müsse Kompromisse eingehen.
Trotzdem, dass Salzwiesen geschädigt sind, haben immer Menschen verursacht. Landwirtschaft, aber auch die nahe gelegene Wasserstraße sind eine Gefahr für das gesamte Wattenmeer. Wie gefährlich der Schiffsverkehr für die Natur ist, hat Ende Juli der Frachter „Fremantle Highway“ gezeigt, der beladen mit Elektroautos vor der holländischen Nordseeküste brannte. „Das wäre eine riesige Umweltkatastrophe gewesen. Wir haben so viel Glück, dass der nicht auseinandergebrochen ist. Eigentlich haben wir unser Glück jetzt aufgebraucht“, sagt Hedden. „Bei so einer Menge an Schweröl wären die Salzwiesen verseucht gewesen“, erklärt sie. Auch wenn es Methoden gibt, um das Öl, das auf dem Wasser schwimmt, einzugrenzen und abzuschöpfen. An der Nordsee hätte man nicht verhindern können, dass die Salzwiesen, das Watt, die Tiere und Pflanzen vergiftet worden wären. Denn wenn mit der Ebbe das Wasser verschwindet, legt sich das Öl ab und dringt in den Boden ein.
Dass neben dem Menschen auch der Klimawandel, also der steigende Meeresspiegel, die Wassererwärmung und die Übersäuerung des Meeres dafür sorgen, dass die Salzwiesen „erschöpft“ sind, hält Ella Logemann für unwahrscheinlich. Zumindest für die Salzwiesen an der Nordsee. Denn sie leben auch jetzt schon in einem „stressgeprägten Ökosystem“. An die hohe Dosis an Salz im Wasser und die Gezeiten haben sich die Salzwiesenpflanzen schon angepasst. Durch die „hohe Sedimentfracht“, die das Meer einträgt, wachsen die Salzwiesen mit dem Meeresspiegel.
Logemann erwartet, dass die Salzwiesen länger mit den Auswirkungen des Klimawandels klarkommen als andere Ökosysteme. Auch die Bundesregierung hat erkannt, dass Salzwiesen ein „Riesenpotenzial“ haben und sie in ihren „Aktionsplan Natürlicher Klimaschutz“ eingebunden. Darin steht, man wolle zusammen mit den Ländern „einen integrierten Ansatz“ entwickeln, damit die Salzwiesen an den Küsten sich erholen können, geschützt und wieder aufgebaut werden. Konkret heißt das für das Wattenmeer, dass ein weiterer Sommerdeich an der „Wurster Küste“ zwischen Arensch und Oxstedt geöffnet wird. Dadurch könnte die Nordsee mehrere Hektar Salzwiese zurückgewinnen.
Das Meer bringt die Salzwiese zurück
Vergleicht man die Renaturierung von Salzwiesen mit der von Mooren, wirkt sie relativ simpel: Der Sommerdeich wird geöffnet und das Meer bringt die Salzwiese zurück. An manchen Stellen ist das auch so, aber dadurch, dass fast alle Salzwiesen landwirtschaftlich genutzt wurden und mit Gräben versehen sind, müssen sie an manchen Stellen zuerst geebnet werden, damit sich die Salzwiesen dort verbreiten können. „Wahrscheinlich ist es einfacher, als ein Moor wiederzuvernässen“, sagt Logemann.
Auf einer App auf ihrem Handy kann Annelie Hedden sehen, wann die Ebbe einsetzt. In fünf Minuten fließt das Wasser wieder zurück. Ein paar Stunden später, bei Ebbe, können die Spaziergänger auf dem Wanderpfad an den Salzwiesen vorbei und über dem Watt gehen. „Es ist einfach ein extrem toller Lebensraum. Man kann hier durch den Langwarder Groden laufen und es ist jedes Mal anders. Einerseits wegen der Gezeit, also wie hoch das Wasser gerade steht, andererseits kommt es auf die Jahreszeit an: Im Frühling sind Brutvögel da, im Herbst die Zugvögel. Es hat zu jeder Jahreszeit seinen eigenen Charme. Die Salzwiesen haben ja nicht nur das Potenzial für den Klimaschutz, sondern auch für den Menschen, der hier Erholung findet“, sagt Hedden.