75. Jahrestag Befreiung Auschwitz
"Wir müssen wieder aufpassen"
Petra Diek-Münchow
Eine Kerze steht auf dem Wohnzimmertisch. Erna de Vries rückt sie zurecht und liest die Worte darauf laut vor: „Ich wollte noch einmal die Sonne sehen.“ Schüler haben diese Kerze für die Lathenerin gebastelt, nachdem sie ihnen erzählt hat, wann sie diesen Satz gedacht hat – am 15. September 1943. Da wird Erna de Vries in Auschwitz-Birkenau nach einer Selektion in den Todesblock verlegt und weiß nicht, ob sie den nächsten Tag erlebt. Oder ob sie wie Millionen andere Menschen von den Nazis erschlagen, erschossen, vergast wird.
Heute ist Erna de Vries 96 Jahre alt. Sie hat überlebt, weil ein SS-Mann sie damals zurück in die Baracke schickte. Ist der 27. Januar – der 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung – ein besonderer Tag für sie, als eine der noch wenigen Zeitzeugen? Sie überlegt kurz. „Ja, ich weiß, dass vielen Menschen an diesem Tag das Leben durch die Befreiung gerettet wurde. Also ist das wirklich ein besonderer Tag. Aber ich war zu diesem Zeitpunkt noch in Ravensbrück inhaftiert oder schon auf dem Todesmarsch. Meine Befreiung durch die Amerikaner kam etwas später.“
Ihr besonderes Datum ist eher ein anderes – der 8. November. „Der Todestag meiner Mutter“, sagt sie und schaut auf ein Bild, das Bekannte mit weiteren Familienfotos im Krieg aufbewahrt hatten. „Mein größter Schatz, ich habe ja sonst nichts mehr von ihr.“ Studenten haben herausgefunden, dass ihre Mutter an diesem Tag im Herbst 1943 in Auschwitz gestorben ist. Die genauen Umstände kennt Erna de Vries nicht. „Ob sie verhungert ist oder ob sie ins Gas musste, weiß ich nicht.“ Sie versucht, nicht mehr so viel nachzugrübeln. Vor Jahren ist sie noch einmal in Auschwitz gewesen, um ihrer Mutter nah zu sein. „Es tut immer noch weh.“
Seit 1998 erzählt die Lathenerin vor allem Schülern ihre Geschichte. Von ihrem christlich-jüdischen Elternhaus in Kaiserslautern. Von antisemitischen Anfeindungen und der Pogromnacht 1938, als auch ihr Zuhause verwüstet wird. Von „Freunden“, die keine Zeit mehr für sie haben und von der Ausbildung zur Krankenschwester, die sie aufgeben muss. „Ich wäre gerne Ärztin geworden. Aber die haben mir meine Jugend gestohlen.“ Der Terror mündet in die Deportation ihrer Mutter nach Auschwitz. Tochter Erna geht freiwillig mit: „Ich konnte sie nicht allein lassen.“
„Ich habe das Leben gern. Es ist ein Geschenk“
Mucksmäuschenstill ist es stets in den Klassenzimmern, wenn Erna de Vries aus dem Vernichtungslager berichtet. Kein Tuscheln, kein Hüsteln, kein Füßescharren unter dem Tisch. Hinterher bekommt sie oft Dankesbriefe von den Lehrern und Schülern. Solch eine Unterrichtsstunde mit Erna de Vries geht tiefer als jedes Buch und jeder Film. Und noch etwas gibt sie den jungen Leuten dabei mit: die eindringliche Bitte, jeden Menschen gleich zu achten: „Egal welcher Hautfarbe, Religion oder Nationalität.“
Am liebsten würde Erna de Vries mit diesen Jugendbegegnungen weitermachen. Ganz wach ist ihr Geist, ganz gewählt ihre Worte, ganz lebendig ihre Erinnerungen. Aber die Besuche fallen ihr körperlich schwerer. Sie sieht und hört nicht mehr so gut, manchmal machen ihr Schwindelanfälle zu schaffen. Aber diese Treffen sind ihr wichtig. „Die jungen Leute können das am besten behalten. Mir ist es ein Anliegen, dass die Geschichte nicht unter den Teppich gekehrt wird. Wir müssen die Augen aufmachen, wir müssen wieder aufpassen.“
Denn sie kennt auch die Stimmen, die einen Schlussstrich ziehen möchten, die verharmlosen und verleugnen, die ihre rechten Parolen über Facebook und Co. herausposaunen. „Es gibt noch genug von der Sorte. Die säen wieder Hetze in die Welt.“ Das macht sie wütend und traurig zugleich. Aber mehr will sie über bestimmte Parteien, Gruppen und Personen nicht sagen. Da steigt – noch immer oder wieder? – Angst in ihr auf. „Ich habe Befürchtungen, dass ich angegriffen werde. Und ich habe doch erlebt, wie es einst angewachsen ist.“ Das Gefühl, nicht wirklich erwünscht zu sein, hat sie nie ganz ablegen können.
Trotzdem: Wer Erna de Vries heute fragt, wie es ihr geht, bekommt ein herzliches Lächeln zur Antwort. „Gut“, sagt sie. Hass ist ihr fremd. „Wenn man Hass in sich hat, zerstört der einen selber. Ich habe das Leben gern, es ist ein Geschenk.“ Sie dreht sich nach Fotos ihres Mannes, ihrer Kinder und Freunde um. Und dann zieht sich ein Lächeln über ihr Gesicht. „Ich werde bald Urgroßmutter“, sagt sie. „Das ist mir eine Genugtuung, dass ich das erleben darf – dass die braune Bande damals nicht alles geschafft hat, was sie vorhatte."