Was können Christen gegen Antisemitismus tun?
„Wir stehen an Eurer Seite“
Foto: imago/A. Friedrichs
Wie geht es zurzeit der jüdischen Community in Deutschland?
Viele Jüdinnen und Juden hier spüren großen Schmerz, und dieser Schmerz wird verursacht durch fehlende Solidarität. Ganz Deutschland hat 2015 geschlossen hinter Charlie Hebdo gestanden …
… hinter der Redaktion der französischen Satirezeitschrift, die damals von zwei islamistischen Terroristen überfallen worden ist. Zwölf Menschen haben die Täter ermordet.
Und in Deutschland haben alle „Je suis Charlie“ skandiert. Da ist es jetzt, nach dem Massaker der Hamas-Terroristen mit mehr als 1000 Toten, schon auffallend, dass gerade auch viele linksorientierte Menschen den angegriffenen jüdischen und nichtjüdischen Israelis die Solidarität verweigert haben. Das hat zum Beispiel Igor Levit tief erschüttert.
Der berühmte Pianist hat der Wochenzeitung „Die Zeit“ gesagt, er fühle sich angesichts der antisemitischen Vorfälle in Deutschland „so allein wie noch nie“. Die fehlende Empathie habe bei ihm dazu geführt, „dass ich mein Grundvertrauen in das, was Gesellschaft in Deutschland ist, verloren habe“. Finden Sie den Vorwurf, die Deutschen seien empathielos und zu leise gegen Antisemitismus, berechtigt?
Zumindest gibt es tief in den Überzeugungen vieler Deutscher Antisemitismus. Sie haben mit allen Völkern der Erde Empathie – aber wenn es um Israel und die Juden geht, sind sie schnell dabei zu sagen: „Die sind doch selber schuld.“ Das ist wirklich sehr verletzend: dass für viele Deutsche aus „Nie wieder!“ nicht folgt: „Nie wieder ist jetzt!“. Sie trauern zwar um die Juden, die die Nazis ermordet haben – aber den Juden, die heute leben, fühlen sie sich nicht unbedingt verpflichtet.
Was könnten wir konkret tun, um mehr Empathie mit den Juden zu zeigen?
Wir könnten zum Beispiel schauen, ob auf Wikipedia …
… der freien Online-Enzyklopädie, die jeder Mensch mitgestalten kann …
… die Juden, denen auf den Stolpersteinen in unserer Stadt gedacht wird, schon einen Wikipedia-Eintrag haben. Und wenn nicht, könnten wir so einen Beitrag schreiben.
Wie kommen Sie denn darauf?
Ich verfolge mit ganz großer Sorge, wie das Internet gerade von wenigen großen Konzernen gekapert wird und wie Menschen wie Elon Musk über X …
… das soziale Netzwerk, das früher Twitter hieß …
… unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit schlimmste antisemitische Verschwörungsmythen verbreiten. Ich akzeptiere es nicht, dass wir das sehen und doch nur dasitzen und jammern, wir könnten ja nichts tun. Jeder Mensch kann etwas tun. Jeder kann mithelfen, unsere deutsche Erinnerungskultur auf Wikipedia ein bisschen besser zu machen.
Was würde das bringen, wenn mehr Menschen, denen auf Stolpersteinen gedacht wird, auf Wikipedia zu finden sind?
Wir gehen gerade in das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Sie nimmt das, was im Internet steht, auf und spielt es uns wieder zurück – in Texten, in Reden, in Filmen. Das heißt: Was dort steht, ist nicht egal. Was wir jetzt im Internet verbessern, wird in die Zukunft hineinwirken. Wir sind aufgerufen, Friedensstifter zu sein – und auf Wikipedia kann das jede Christin und jeder Christ sogar von zu Hause aus tun.
Was könnten wir sonst noch tun?
Wir Christinnen und Christen sollten uns endlich alle zum demokratischen Frieden bekennen. Wir sollten also anerkennen, dass Parlamentsarmeen wie die von Israel oder der Ukraine nicht das Gleiche sind wie die antisemitische Terrorgruppe Hamas oder Wladimir Putins Invasionsarmee. Wir sollten, wenn eine Demokratie wie Israel oder die Ukraine angegriffen wird, selbstverständlich sagen: „Wir stehen an Eurer Seite.“ Und nicht den Angriff relativieren und sagen: „Naja, die Hamas und der Putin, die haben ja auch irgendwie recht.“
Wir sehen gerade jetzt, wie sich die verschiedenen Formen von Antisemitismus digital vermischen.
Es gibt in Deutschland muslimischen Antisemitismus, linken Antisemitismus und rechten Antisemitismus. Wie gefährlich schätzen Sie jede dieser Formen ein?
Wir sehen gerade jetzt, wie sich die verschiedenen Formen von Antisemitismus digital vermischen. Die Hamas beruft sich einerseits auf islamische Quellen und andererseits auf die Protokolle der Weisen von Zion – einen russischen Verschwörungsmythos, der in rechtsextremen Kreisen als Beweisdokument für das vermeintliche Streben der Juden nach der Weltherrschaft gefeiert wird. Und nun bekommt die Hamas auch noch Unterstützung von sehr vielen Linken, die meinen, sie wären für Frieden, wenn sie sagen, man soll sich Antisemiten und Tyrannen halt unterwerfen.
Heißt: Wir müssen alle Formen des Antisemitismus im Blick haben?
Auf jeden Fall, ja. Wer immer nur über den Antisemitismus der anderen reden will und nie über seinen eigenen, der hat nichts begriffen. Wenn Muslime mit mir nur über christlichen Antisemitismus sprechen wollen oder Christen nur über muslimischen Antisemitismus, dann sage ich: Da bin ich nicht dabei, denn das ist Heuchelei. Entweder wir fangen alle bei uns selber an – oder wir missbrauchen dieses Thema, um uns gegenseitig abzuwerten. Und das wäre eine Katastrophe.
Im Moment trauen sich viele Juden in Deutschland nicht mehr, in der Öffentlichkeit die Kippa zu tragen und ihre Kinder zur Schule oder in die Kita zu schicken.
Das stimmt leider. Weltweit nimmt der Antisemitismus zu. Wenn dann gleichzeitig Israel angegriffen wird, macht das natürlich was mit Jüdinnen und Juden. Israel war für sie immer ein Ort, von dem sie gesagt haben: Im Notfall, wenn mal die Demokratien in Europa oder den USA zusammenbrechen sollten, kann ich dorthin fliehen. Genau diese Sicherheit ist durch das Massaker der Hamas erschüttert worden. Deswegen ist es jetzt so wichtig zu zeigen: Wir werden das Existenzrecht dieses Staates Israel verteidigen. Israel wird nicht untergehen. Israel lebt. Und: Ihr Jüdinnen und Juden seid hier in Deutschland ohne Wenn und Aber willkommen. Wir beschützen einander und wollen eine gemeinsame Zukunft mit euch haben.
Israels Regierung und die Art ihrer Kriegsführung im Gazastreifen dürfen wir aber gleichzeitig kritisieren, oder?
Selbstverständlich darf jeder Mensch in Deutschland die israelische Regierung kritisieren. Das tun die Israelis ja selbst, und zwar sehr, sehr hart. Und wir dürfen davon ausgehen, dass das, was dort gerade passiert, für Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seine Regierung auch noch ein politisches Nachspiel haben wird – weil Israel eben eine Demokratie ist. Aber eine Regierung zu kritisieren, kann doch nicht heißen, dass man Frauen, Kindern, Zivilisten die Solidarität verweigert, wenn sie von Terroristen angegriffen und ermordet werden.
Glauben Sie, dass manchmal schärfer unterschieden werden müsste zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik?
Natürlich wird das manchmal verwechselt. Was ich sehr schwierig finde, ist, wenn Leute nicht unterscheiden können zwischen der Kritik an einer antisemitischen Aussage und dem Vorwurf, jemand sei Antisemit. Im Podcast des Moderators Markus Lanz und des Autors Richard David Precht zum Beispiel waren kürzlich sehr viele antisemitische Aussagen drin.
Wir könnten besser sagen: „Hey, okay, ich bin kein Antisemit. Aber dieser Satz von mir gerade, der war wirklich blöd und den wiederhole ich nicht mehr.“
Precht hat zum Beispiel die falsche Behauptung aufgestellt, ihre Religion verbiete es orthodoxen Juden zu arbeiten – „ein paar Sachen wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen“. Sie haben auf Ihrem Blog geschrieben, sie hätten sich den Podcast mit seinen vielen antisemitischen Falschbehauptungen „unter fast körperlichen Schmerzen“ angehört.
Genau, aber ich habe Precht und Lanz deshalb nicht als Antisemiten bezeichnet – und das ist mir wichtig. Antisemitismus tragen wir alle in uns, das haben wir alle geerbt. Wir sollten nicht so tun, als hätten wir nichts damit zu tun und als wären nur die anderen die Bösen. Und wir sollten uns nicht empört in die Opferrolle begeben, wenn uns mal jemand aufzeigt, dass eine Aussage von uns antisemitisch war. Wir könnten besser sagen: „Hey, okay, ich bin kein Antisemit. Aber dieser Satz von mir gerade, der war wirklich blöd und den wiederhole ich nicht mehr.“
Was könnte das für ein blöder Satz sein?
Ich möchte eigentlich keine Sätze wiederholen, die Menschen auf eine falsche Spur locken. Aber ein antisemitisches Klischee, das mir ständig begegnet, ist, Semiten wären eine Rasse aus Juden und Arabern. Das ist Quatsch. Es gibt keine Menschenrasse – und der Noah-Sohn Sem war in der jüdischen Tradition der erste Gründer einer Schule mit Alphabetschrift. Wenn ich Menschen darauf hinweise, sage ich ihnen damit nicht: „Weil Sie dieses Klischee gesagt haben, sind Sie Antisemit.“
Sondern einfach nur uninformiert.
Genau, und das ist gerade der Punkt. Wenn wir uns eingestehen, dass wir alle Antisemitismus in uns haben, dann können wir daran arbeiten. Dann können wir wachsen. Dann können wir uns bilden und besser werden – egal wie alt wir sind.
Sie haben vorhin den Satz erwähnt, der in den vergangenen Wochen oft zu hören war: „Nie wieder ist jetzt“. Finden Sie diesen Satz angemessen und passend?
Wir müssen ganz klar unterscheiden zwischen Vergleichen und Gleichsetzen. Ein Gleichsetzen von damals und heute ist nicht sinnvoll, ein Vergleich dagegen sehr. Vergleiche sind sogar notwendig, denn ohne sie können wir aus der Geschichte gar nicht lernen. Wir dürfen nicht so tun, als ob der Antisemitismus der Nazis so einmalig gewesen wäre, dass sich gar nichts daraus lernen ließe.
Was können wir aus dem Vergleich der Nazis mit der Hamas lernen?
Dass man antisemitischen Vernichtungswillen niemals unterschätzen darf. Radikale Antisemiten wollen nicht verhandeln. Sie wollen keine Friedenslösung. Sondern sie glauben an eine jüdische Weltverschwörung und wollen alle Jüdinnen und Juden und ihre vermeintlichen Mitverschwörer vernichten. Schon Adolf Hitler hatte in Mohammed Amin al-Husseini …
… dem Großmufti von Jerusalem …
… einen arabischen Verbündeten, der in der arabischen Welt, zum Beispiel im Irak und in Palästina, Juden hat angreifen lassen – schon lange vor der Staatsgründung Israels. Aus dem historischen Vergleich kann man also jede Menge lernen. Aber das bedeutet nicht, dass man die Hamas mit der NSDAP gleichsetzt.
Auch wegen der starken Rolle der Kirchen und Religionen ist hier sehr vieles gut gelaufen. Solidarität zu zeigen, ist aber meines Erachtens nicht genug.
In Deutschland hat es zuletzt viele propalästinensische Demonstrationen gegeben, aber nur wenige projüdische. Müssten wir mehr auf die Straße gehen und laut zeigen, dass wir für Israel und gegen Antisemitismus sind?
Ja. An vielen Orten ist das aber ja auch passiert, zum Beispiel hier in Stuttgart. Und in Mannheim haben wir die jüdischen und die islamischen Verbände zu einem sehr, sehr guten Gespräch zusammengebracht, in dem es um Solidarität und Dialog ging. Wir haben hier in Baden-Württemberg bisher, anders als anderswo in Deutschland, keine Aufrufe zur Gründung eines Kalifats erlebt. Und hier haben auch keine Terror-Sympathisanten Süßigkeiten verteilt aus Freude über den Anschlag der Hamas. Auch wegen der starken Rolle der Kirchen und Religionen ist hier sehr vieles gut gelaufen. Solidarität zu zeigen, ist aber meines Erachtens nicht genug.
Was muss dazukommen?
Wir müssen unseren Teil dazu beitragen, dass es in Zukunft weniger Krieg gibt. Erst dann sind wir wirklich glaubwürdig.
Was könnten wir konkret tun?
Wir sollten sehr schnell aufhören, antisemitische, demokratiefeindliche fossile Regime zu finanzieren. Das heißt: kein Geld mehr in den Iran, nach Russland, nach Katar. Ich würde mir wünschen, dass die Politik sich fragt: Welche Förderprogramme könnten wir auflegen, damit die Menschen sehr viel schneller wegkommen von fossilen Rohstoffen und auf erneuerbare Energien als Friedensenergien umsteigen? Das wäre der beste Friedensbeitrag, den Deutschland leisten kann – denn je weniger Geld diese Regime mit fossilen Rohstoffen verdienen, desto weniger Geld haben sie, um Kriege zu führen. Ich bin ja viel in der arabischen Welt. Uns nimmt dort überhaupt niemand ernst.
Inwiefern?
Die Araber sagen: „Ihr redet zwar über Menschenrechte, aber letztlich wollt ihr nur unser Öl und Gas.“ Und leider muss ich sagen: „Damit haben sie recht.“
Wie sieht Ihre Frau, die Muslimin ist, dieses ganze große Thema?
Meine Frau war bei der pro-israelischen Demonstration in Stuttgart bewusst dabei. Und auch am 9. November, als ich im Landtag von Baden-Württemberg die vielleicht wichtigste Rede meines Lebens gegen Antisemitismus gehalten habe, hat sie mich begleitet. Weil sie als Muslimin zwei Dinge zeigen wollte. Erstens: Wir lassen uns nicht einschüchtern – auch wenn wir Drohungen aus dem Hamas-Umfeld erhalten haben. Und zweitens: Die Hamas spricht nicht für die arabische Welt – und sehr, sehr viele Muslime wollen nicht mit ihr in einen Topf geworfen werden. Ich bin dankbar und gerührt, dass sie dieses Zeichen gesetzt hat. Meine Frau unterstützt mich absolut. Wir hatten kürzlich Silberne Hochzeit – und haben uns vorgenommen: Die goldene schaffen wir auch.
Interview: Andreas Lesch
Zur Person:
Michael Blume (47) ist Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragter von Baden-Württemberg. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben. Im Jahr 2019 veröffentlichte er „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“. 2022 folgte, zusammen mit der jüdischen Psychotherapeutin Barbara Traub, „Wenn nicht wir, wer dann? Ein Gespräch nach 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland“. Blume ist evangelischer Christ und hat mit seiner Frau Zehra, einer Muslimin, drei Kinder.