Wo ist Gott?
Vor 75 Jahren stießen russische Soldaten im Südwesten Polens auf die drei Lager von Auschwitz. Was sie fanden, sprengte alle bisherige Erfahrung des Bösen. Kann man nach Auschwitz an Gott glauben? Diese Frage ist noch nicht erledigt.
Der kürzlich gestorbene Theologe Johann Baptist Metz stellte seine Studenten vor eine, wie er sagte, einfache und gleichzeitig komplizierte Frage: „Fragt euch, ob die Theologie, die ihr kennenlernt, so ist, dass sie vor und nach Auschwitz eigentlich die gleiche sein könnte. Wenn ja, dann seid auf der Hut!“ Was er meinte war: Eine Lehre von Gott, die ungerührt ist von dem Ungeheuerlichen, das Menschen erlitten und Menschen getan haben, ist verdächtig. Sie wird das Bild eines Gottes entwerfen, der selbst ungerührt bleibt von den Schreien der Erstickenden in den Gaskammern.
Und wer die Bilder der Todgeweihten in Ausschwitz sieht, die Angst in den Augen der Kinder, das Weinen der Frauen, die Verzweiflung der Männer, der steht als Theologe vor der Frage: Stimmt es, was ich über die Allmacht, die Güte, die Treue, die Liebe Gottes sage? Kann ich das mit redlichem Gewissen glauben und weitersagen?
Als die Soldaten der russischen 100. Infanteriedivision am 27. Januar 1945 die Weichsel überschritten und um 9 Uhr auf eine industrieähnliche Anlage stießen, wussten sie nicht, was sie erwartete. Schon im Juli hatte die Rote Armee das (aufgegebene) Konzentrationslager Majdanek in Ostpolen eingenommen. Auschwitz aber war etwas anderes. Im Lager III (Monowitz) fanden die Russen 600 ausgemergelte, bis aufs Gerippe abgemagerte Menschen und Hunderte von Leichen.
„…weil in Auschwitz gebetet wurde“
Erst später wurde das Ausmaß der Verbrechen in den drei Auschwitz-Lagern bekannt. 1,1 bis 1,5 Millionen Menschen wurden dort umgebracht, zum größten Teil durch Giftgas, das eine schnelle Beseitigung der Leichen ermöglichte. Aus 14 Europäischen Ländern wurden Menschen, 90 Prozent davon Juden, erfasst, in Zügen in die Lager transportiert. Die „Endlösung“: Staatlich angeordnet, perfekt organisiert, ungehindert durchgeführt.
Es hat in der Geschichte viele Erschütterungen des Glaubens gegeben. Die Pest, der Dreißigjährige Krieg, das Erdbeben von Lissabon, die Umbrüche durch Aufklärung und französische Revolution. Auschwitz hat eine andere Qualität. Auch deshalb, weil sich dieser Massenmord in einem zivilisierten Land mit 94 Prozent getauften Christen ereignete.
„Nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“, hatte der jüdische Philosoph Theodor W. Adorno 1949 gesagt. Johann Baptist Metz, der das Kriegsende als 17-jähriger in Wehrmachtsuniform erlebt hatte, wandelte diesen Satz ab. „Können wir nach Auschwitz noch beten?“ Metz hat diese Frage als Theologiestudent und später als Priester existentiell bewegt. Seine Antwort: „Wir können nach Auschwitz beten, weil in Auschwitz gebetet wurde.“
Wurde in Auschwitz gebetet? Ja, dafür gibt es Zeugen. Ebenso für die Verzweiflung, die in diesen Gebeten sprach. Niemand hat das so drastisch wiedergegeben wie der Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel (1928–2016). In seinem autobiografischen Buch „Die Nacht“ schildert er, wie in einer Strafaktion zwei Männer und ein 13-jähriger Junge gefoltert und auf dem Platz gehängt werden. Das Kind ist „der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen“. Die gewöhnlichen Scharfrichter weigern sich, dem Jungen die Schlinge um den Hals zu legen. SS-Männer treten an ihre Stelle. „Es lebe die Freiheit“, rufen die Männer am Galgen. Das Kind schweigt. „Wo ist Gott, wo ist er?“, fragte jemand hinter mir. Die Stühle werden umgekippt. Die Männer sterben schnell, das Kind kämpft noch eine halbe Stunde mit dem Tod. Es lebt auch noch, als alle abtreten. Elie Wiesel: „Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: Wo ist Gott? Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: Wo er ist? Dort – dort hängt er am Galgen.“
Text: Andreas Hüser