Fachtag des Katholischen Netzwerks Kinderschutz in Berlin

Wächterin der Menschenwürde

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Arbeiten in Kleingruppen beim Fachtag
Nachweis

Foto: Erzbistum Berlin/Angela Kröll

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In Workshops brachten Teilnehmerinnen auch Scham-Erfahrungen aus ihren Arbeitsbereichen mit ein. 

Um Scham und Beschämung ging es bei einem Fachtag des Katholischen Netzwerks Kinderschutz in Berlin. Fachleute plädierten dafür, Schamgefühle nicht zu verdrängen, sondern sie anzuerkennen.

„Wer kennt es nicht, dieses Gefühl, am liebsten im Boden zu versinken, weil etwas so unangenehm, peinlich oder verletzend ist?“ Mit diesen Zeilen lud das Vorbereitungsteam des katholischen Netzwerks Kinderschutz zu seinem Fachtag ein. „Scham und Beschämung finden sich auch in der pädagogischen und pastoralen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“, so das Netzwerk. „Durch subtile, offensichtliche oder unbewusst verletzende Bemerkungen, durch Bloßstellungen in sozialen Medien, körperliche Gewalt, Ausgrenzungen oder im Zusammenhang mit Machtmissbrauch oder sexualisierter Gewalt.“

„Scham bringt uns dazu, unsere Normen und Werte zu hinterfragen“

Mit ihrer Einladung trafen die Netzwerkmitglieder auf reges Interesse. 150 Gäste waren Ende Februar in die Katholische Hochschule für Sozialwesen nach Berlin-Karlshorst gekommen. Zahlreiche Berufsgruppen aus den Diensten und Einrichtungen im Erzbistum Berlin, etwa aus der der Kinder-, Jugend-, Familien- und Behindertenhilfe, waren vertreten: Lehrkräfte, Erzieherinnen, Studierende und Ehrenamtliche waren unter den Interessierten. 
„Scham ist eine komplexe Emotion“, sagte Professor Gabriele Kuhn-Zuber, Präsidentin der Hochschule, bei ihrer Begrüßung. „Sie bringt uns dazu, uns klein und unsicher zu fühlen, egal an welcher Position wir uns befinden. Aber sie bringt uns auch dazu, unser Handeln sowie unsere Normen und Werte zu hinterfragen.“ Dass die Beschäftigung mit  Scham wichtig sei, sehe man auch an den Anmeldezahlen, fand die Professorin.
Für einige Aha-Momente sorgte zu Beginn der Sozialwissenschaftler Dr. Stephan Marks mit seinem Vortrag „Scham – die tabuisierte Emotion?“. Marks ist nicht nur Autor und Supervisor, sondern bildet seit vielen Jahren Berufstätige, die mit Menschen arbeiten, zu dem Thema weiter. Aus seinen Fortbildungen berichtete er zum Beispiel von Pflegenden, die von älteren Menschen beschimpft, bespuckt und gedemütigt wurden. Anhand dieser Erlebnisse erklärte der Wissenschaftler so genannte Scham-Abwehrmechanismen. Die Pflegenden bekamen auf diese Weise die Scham der älteren Menschen ab – darüber, dass sie das Bett eingenässt hatten oder etwas anderes getan hatten, für das sie sich schämten. 
„Scham wird häufig von Trotz, Wut und Gewalt abgewehrt“, so Marks. Dennoch werde in der Praxis der sozialen Arbeit nie über Scham gesprochen. Die Emotion anzunehmen und nicht klein zu reden, sei die große Herausforderung. „Ein guter Umgang mit Schamgefühl ist entscheidend für gute Mitmenschlichkeit. Man kann also sagen, die Scham ist Wächterin der Menschenwürde“, erklärte Marks. 
Wie genau in der Praxis mit Scham und Beschämung umgegangen werden kann, dieser Frage widmete sich der Fachtag anschließend in acht Workshops. Vielfältige Situationen kamen dabei zur Sprache. Wie lassen sich in der pädagogischen Arbeit körpernahe Situationen so gestalten, dass niemand beschämt und dass Missbrauch verhindert wird, war dabei eine Frage. Lehrer und Erzieher, die in der Sexualerziehung tätig sind, fragten danach, wie sie bei dieser Aufgabe professionell mit Scham umgehen können.

„Wie gehe ich mit jungen Menschen um, die andere beschämen?“

Kirsten Messina, Studentin der Sozialen Arbeit und momentan in ihrem Praxissemester an katholischen Schulen im Einsatz, brachte einige Fragen in die Workshops ein: „Ich frage mich: wie gehe ich mit jungen Menschen um, die andere beschämen, zum Beispiel durch verbale Gewalt? Oder mit so einer Situation in der Schulklasse, also wenn Beschämung in einer Gruppe passiert?“ 
Antworten gab – neben den anderen Gastdozenten – der Workshopleiter Lars Dabbert. Er gab darüber hinaus tiefe Einblicke, wie traumatische Erlebnisse von Kindern und Jugendlichen eng mit Schamgefühlen verknüpft sind. Er stellte heraus, dass es entscheidend sei, das Scham- und Schuldempfinden anzuerkennen statt es wegzureden. Es könne eine Möglichkeit sein, in einer Schulklasse ganz offen mit allen Anwesenden über diese Emotionen zu sprechen, ohne eine bestimmte Person hervorzuheben. Solche Tipps für die Praxis wurden von den Teilnehmern dankbar aufgenommen.

Teilnehmerinnen des Fachtages
Gespannte Aufmerksamkeit für die Fachreferenten. Im Fokus waren Menschen aller Altersstufen. 

Aus Scham für die katholische Kirche ein Schutzkonzept installiert

Dass Scham- und Schuldgefühle unabhängig vom Alter sind, machte Fridolin Schubert deutlich. Schubert kam aus der Berliner Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung Sancta Maria zum Fachtag. Offen und ohne Umschweife sagte er in einem Workshop: „Ich habe mich aufgrund der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche geschämt, die im Jahr 2010 publik wurden. Als dann auch noch ein Verdachtsfall in unserer Einrichtung auftauchte, habe ich mich schuldig gefühlt, obwohl ich nichts dafür konnte.“ 
Doch er hat den Eindruck, gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgegangen zu sein. Das, worauf es am meisten ankomme, sei Transparenz. Keine Organisation sei perfekt, überall passierten Fehler. „Wir haben an unseren Fehlern gearbeitet und ein umfassendes Schutzkonzept vor sexualisierter Gewalt entwickelt“, berichtete er. 
Nach dem tiefen Eintauchen in solche und andere Erlebnisse und Erfahrungen traten zum Abschluss des Fachtags Dörthe Engelhardt und Barbara Demmer vom „Improzess“ Improvisationstheater auf. Die Schauspielerinnen brachten das Publikum nicht nur zum Lachen, sondern auch zum Durchatmen nach einem intensiven Tag.

Scham kann ein wertvoller Gewissenskompass sein

Auch Uta Recher genoss diese Augenblicke. Sie kennt aus ihrer Arbeit bei der Caritas viele Berührungspunkte mit Scham. Recher arbeitet in einem künstlerischen Projekt über das Leben von Menschen auf der Straße. Darüber hinaus ist sie verantwortlich für den Besuchsdienst älterer Menschen und hat eine Ausbildung als Schulungsreferentin für sexualisierte Gewalt absolviert. „Scham bedeutet oftmals Leid, sagt sie, „aber meine wichtigste Erkenntnis heute ist, dass in unserer Arbeit die Scham ein Gewissenskompass für uns selbst ist und als solcher bleiben darf.“

Christina Kölpin