Jüdisches Leben in Görlitz
Zerbrechliche Heimat
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Der aktuelle Terror der Hamas gibt dem Gedenken an die Vertreibung und Ermordung der Juden aus Deutschland eine neue Eindringlichkeit. „Mir ist in den letzten Tagen sehr bewusst geworden, wie zerbrechlich Heimat sein kann“, sagt Frank Seibel, Görlitzer Katholik und Leiter des vor gut zwei Jahren eröffneten Kulturforums Görlitzer Synagoge. Als die Juden 1911 in Görlitz ihre Neue Synagoge einweihen konnten, sei dies ein freudiges Bekenntnis gewesen: „Görlitz ist unsere Heimat, hier gehören wir dazu, hier sind wir willkommen.“ Nicht einmal drei Jahrzehnte später brannte die Synagoge und das Glück habe sich wieder zerschlagen, ruft Seibel in Erinnerung.
Während der Jüdischen Kulturtage, die er anlässlich des 85. Jahrestags der Pogrome mitorganisiert, soll in der restaurierten und als städtische Kulturstätte genutzten Synagoge erfahrbar werden, dass Juden in Deutschland und der Oberlausitz keine Fremden und Exoten waren. Sie waren Nachbarn, Schulfreunde, Berufskollegen, Freunde und brachten Kultur und Lebensfreude mit nach Görlitz.
Eröffnet wird die Veranstaltungsreihe mit einem literarisch-musikalischen Programm über den Görlitzer Juristen und Publizisten Paul Mühsam. Den Abschluss bildet am 18. November ein Konzert der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie Dresden mit selten gespielten Meisterwerken jüdischer Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Zu den weiteren Höhepunkten gehört auch eine Ausstellung mit Bildern des Görlitzer Theologen Andreas Neumann-Nochten, der erst als Jugendlicher erfuhr, dass seine Familie jüdische Wurzeln hat.
Rabbiner und Pfarrer spielten Karten
Als Frank Seibel sich in den letzten Monaten intensiver mit der jüdischen Geschichte der Stadt beschäftigte, beeindruckte ihn unter anderem, wie vertraut Christen und Juden vor hundert Jahren miteinander waren. So habe der evangelische Kirchenchor jüdische Gottesdienste gestaltet, ein christlicher Kantor spielte die Orgel der Synagoge. Der Chronik der benachbarten katholischen Heilig-Kreuz-Gemeinde ist zu entnehmen, dass sich der damalige Pfarrer Franz Brückner gelegentlich mit dem Rabbiner zu Wein und Kartenspiel traf. Nach der Pogromnacht kaufte die Heilig-Kreuz-Pfarrei von der jüdischen Gemeinde die Synagogen-Orgel für ihre Filialkirche St. Bonifatius im heutigen Zgorzelec. Dort wird sie bis heute gespielt. „Der Kirchenvorstand entschied sich seinerzeit, einen fairen Preis für die Orgel zu zahlen, um der Rabbinerfamilie die Ausreise zu ermöglichen“, weiß der heutige katholische Stadtpfarrer Roland Elsner.
Die Erinnerung an die Pogrome wachzuhalten, ist ihm ein großes Anliegen. Wenn er in Görlitz ist, feiert er am 9. November den ökumenischen Gedenkgottesdienst mit, der mit einer großen Kerzenprozession zur Synagoge ausklingt. In einem Fenster seiner Wohnung steht eine jüdische siebenarmige Menora, die von der Sängerempore der Synagoge aus zu sehen ist, und zum jüdischen Chanukka-Fest zündet er dem Brauch entsprechend die Kerzen auf dem achtarmigen Chanukkaleuchter an. „Papst Johannes Paul II. hat einmal gesagt, dass die Juden unsere älteren Brüder im Glauben sind. Dieser Satz hat sich mir tief eingeprägt“, erzählt der Pfarrer. Rund um den 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, lädt er gemeinsam mit dem Synagogenverein zu einer Andacht ein und fährt jedes Jahr mit Jugendlichen nach Auschwitz.
Mit der katholischen Jugend in Auschwitz
Dabei ehrt er auch einen seiner Verwandten, der in Auschwitz ums Leben gekommen ist. In Block 14 hat er ein Bild von ihm gefunden. Roland Elsner war dabei, als Johannes Paul II. die KZ-Gedenkstätte besuchte, und an Papst Benedikts Au- schwitz-Besuch nahm er mit einer Jugendgruppe aus Wittichenau teil.
In vielen deutschen Städten hat es seit Beginn der Terroranschläge vom 7. Oktober israelfeindliche und antisemitische Demonstrationen, Drohungen und Anschläge gegeben. In Görlitz ist bis zum Redaktionsschluss dieser Zeitung alles ruhig geblieben. „Das Kulturforum Görlitzer Synagoge wird zur Zeit rund um die Uhr vorsorglich bewacht“, sagt Frank Seibel. Wie fragil vermeintliche Sicherheiten sind, haben ihm die jüngsten Ereignisse in Israel deutlich vor Augen geführt.
Mehr zu den Jüdischen Kulturtagen: www.kulturforum-goerlitzer-synagoge.de
Der ökumenische Gedenkgottesdienst beginnt am 9. November um 18 Uhr in der Görlitzer Frauenkirche.