Entschädigung für Opfer des DDR-Regimes

Betrogen durch den Unrechtsstaat

Mahnmal an friedliche Revolution

Foto: imago/Norbert Neetz

Vor der evangelischen Stadtkirche St. Jacobus in Ilmenau erinnert ein Mahnmal an die Friedliche Revolution im Herbst 1989 und an die heutige politische Verantwortung.

Seit 35 Jahren verhilft Pfarrer Martin Montag Opfern der DDR-Diktatur zu Gerechtigkeit. „Wir haben manches erreicht“, sagt der Vorsitzende des Bürgerkomitees für Thüringen. Gerade die zwangsweise aus dem Sperrgebiet Ausgesiedelten bräuchten noch mehr.

Pfarrer Martin Montag
Pfarrer Martin Montag
Foto: privat

Die eindringliche Bitte von Fritz Recknagel ist Pfarrer Martin Montag im Ohr geblieben: „Sorgt dafür, dass hier keine Akten politisch Gefangener vernichtet werden!“ Als einer der ersten politischen DDR-Häftlinge wandte sich der Handwerker aus dem Thüringer Wald im Dezember 1989 an die neu gegründete Kommission zur Auflösung der Stasizentrale in Suhl. Ihm war bewusst, dass er und seine Leidensgefährten ohne die Akten später kaum glaubhaft bezeugen könnten, was ihnen widerfahren ist.

Martin Montag, damals Pfarrer von Zella-Mehlis, half bei der Auflösung der Stasi. Gut zwei Monate zuvor hatte er zu denen gehört, die in Suhl ökumenische Friedensgebete organisierten. Er war auch an der Seite der Bürger, die vor der dortigen Stasi-Zentrale demonstrierten und sie schließlich am 4. Dezember besetzten. Er hörte aufmerksam zu, als Fritz Recknagel von den Umständen seiner Haft berichtete: Der kleine private Metallbetrieb, in dem er arbeitete, hatte sich 1960 gegen die drohende Verstaatlichung gewehrt, und Fritz Recknagel erhielt deshalb eine Vorladung.

Auf dem Weg zum Termin hielt die Volkspolizei ihn an und nahm ihn fest, „zur Klärung eines Sachverhalts“, wie es damals hieß. Er sei auf der Autobahn gegen ein Armeefahrzeug gefahren und habe Fahrerflucht begangen, lautete der erfundene Vorwurf. In der Stasi-Untersuchungshaft in Suhl musste er sich ausziehen, erhielt Schläge auf die Waden. Es folgten Nächte mit Verhören. Stasiführungskräfte spuckten ihm dabei ins Gesicht, würgten ihn am Hals und stießen ihn mit dem Kopf gegen die Wand.

Von Februar oder März bis zum August 1961 war er in der Psychiatrie Waldheim inhaftiert, abgeurteilt nach mehreren Paragrafen des Strafergänzungsgesetzes, in denen es unter anderem um Verbindung zu verbrecherischen Organisationen und um staatsgefährdende Gewaltakte geht. 

Täter nicht davonkommen lassen

Was Fritz Recknagel von einer Justiz der Willkür berichtete, war für die Kommission der erste Anstoß, eine Arbeitsgruppe zu gründen, die sich mit Menschenrechtsverstößen des DDR-Staats beschäftigt. Dort konnten sich Thüringer melden, die zur Zeit der Sowjetischen Militäradministration oder der SED-Diktatur ohne rechtsstaatliches Verfahren verurteilt worden. Die Kommission, die sich später in Bürgerkomitee umbenannte, bereitete die Fälle für eine strafrechtliche Rehabilitation auf und legte sie dann dem Bezirksstaatsanwalt in Suhl vor. 

Allein Fritz Recknagel übermittelte innerhalb weniger Monate über 350 solcher Fälle. Bis heute kümmert sich das Bürgerkomitee nicht nur um Einzelne, die Hilfe suchen. Von Beginn an haben sich Martin Montag und seine Mitstreiter gemeinsam mit anderen Akteuren auch in die Gesetzgebung und die Novellierungen der Gesetze eingebracht und damit dazu beigetragen, dass Täter nicht ungeschoren davonkamen und Wiedergutmachung möglich wurde. 

Personenkontrolle durch DDR-Grenztruppen
DDR-Grenztruppen bei einer Personenkontrolle im März 1956.
Foto: imago/frontalvision.com

Die letzte Gesetzesnovelle, über die sich Pfarrer Montag gefreut hat, ist fünf Jahre alt und betrifft ehemalige DDR-Heimkinder und Insassen der Jugendwerkhöfe. Ähnlich wie erwachsene Inhaftierte können auch sie inzwischen strafrechtlich rehabilitiert werden. 

Wenn öffentlich über die SED-Diktatur debattiert wird, mischen sich die Mitglieder des Bürgerkomitees gern ein. Montag, der inzwischen als Ruhestands-Priester in Meiningen lebt, beobachtet mit Sorge, dass diktatorische Phasen der deutschen Geschichte immer wieder verklärt und gerechtfertigt werden. Es habe doch im Nationalsozialismus und in der DDR durchaus Formen des Rechtsstaates gegeben, höre er oft. Nach allen denkbaren Definitionen sei die DDR kein Rechts-, sondern ein Unrechtsstaat gewesen, hält er entgegen. „Wenn es politisch erlaubt ist, in dieser Weise Unrechtssysteme zu relativieren, bahnen wir einem Links- und Rechtsradikalismus den Weg, der nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht“, ist er überzeugt. Dies öffne bereits bestehenden und künftigen  Staatsdiktaturen Tür und Tor.

Nicht predigen, sondern helfen

Friedhofs-Stele Matthias Domaschk
Stele auf dem Jenaer Nordfriedhof für Matthias Domaschk, der 1981 in Stasihaft starb.
Foto: imago/stock&people

Über viele Jahre hinweg hat Martin Montag in Berufs- und allgemeinbildenden Schulen politische Bildungsveranstaltungen angeboten – eingeladen wurde er aber seltener als erwartet. „Ich nehme da in unseren Schulen ein anhaltendes Vakuum wahr“, bedauert er. Ihm liegt es am Herzen, Jugendlichen den Wert der freiheitlichen Demokratie und einer unabhängigen Rechtssprechung nahezubringen.

Als katholischer Priester ein Ehrenamt in einem Verein wie dem Bürgerkomitee zu übernehmen, empfindet er keinesfalls als exotisch: „Unsere Gesellschaft lebt doch davon, dass jeder sich ehrenamtlich engagiert“, sagt er, Priester sollten davon nicht ausgenommen sein. Seine Kirche weiß er dabei hinter sich, von Beginn an leiste er seinen Dienst mit offiziellem Auftrag des Bistums Erfurt. Die Menschen, die seine Hilfe suchen, interessiere sein religiöser Hintergrund allerdings kaum, sagt er. 

Wenn er als Vorsitzender des Bürgerkomitees im Freistaat Thüringen unterwegs ist, predigt er nicht, sondern versucht, Menschen das Leben zu erleichtern. Viele Schicksale gehen ihm nahe. Besonders dramatisch findet er die Lebensgeschichten derer, die in die Selbstschussanlagen geraten sind, die es bis in die 1980er Jahre hinein an der Grenze gab – und überlebten. „Mit schwersten Verletzungen kamen sie – oft nur notdürftig zusammengeflickt – wegen versuchter Republikflucht ins Gefängnis und haben dann ihr ganzes Leben gelitten.“ Der Zynismus, mit dem ehemalige Mitarbeiter des Politbüros oder des Nationalen Verteidigungsrates über das Thema redeten, hat Martin Montag wütend gemacht: „Dass dahinter Menschenleben stehen, hat sie überhaupt nicht interessiert.“

Aufgewühlt hat ihn auch, was er über Manfred Smolka erfahren hat. An dem ehemaligen Oberleutnant der Grenzpolizei wurde 1960 die Todesstrafe vollstreckt. Aus „erzieherischen Gründen“ veranlasste Stasi-Minister Erich Mielke einen Schauprozess gegen den jungen Familienvater, der nach seiner Entlassung aus der Armee aus der DDR geflüchtet war. 

Zwangsausgesiedelte fair behandeln

Die größte Herausforderung in der Aufarbeitung des DDR-Unrechts sieht Martin Montag derzeit bei den ehemaligen DDR-Bürgern, die gegen ihren Willen aus dem Grenzgebiet ins Landesinnere umgesiedelt wurden. In den bisherigen Reha-Gesetzen werde seiner Ansicht nach nur unzureichend berücksichtigt, dass sich Enteignung und Vertreibung traumatisierend auswirkten.

Die Stasi habe beispielsweise schon vor der Deporation in den neuen Wohnorten Gerüchte gestreut, dass die Neuankömmlinge Kriminelle seien. Sie konnten ihren Beruf nicht mehr ausüben, kamen oft in unwürdigen Behausungen unter und blieben dauerhaft sozial isoliert. Viele der rund 12 000 Betroffenen seien inzwischen nicht mehr am Leben. „Es wäre schade, wenn der Staat hier einfach auf eine biologische Lösung setzte“, meint Martin Montag.

tdh
Buchtipp

In einem neu erschienenen „Lexikon der innerdeutschen Grenze“ erklärt das Bürgerkomitee für Thüringen stichwortartig in alphabetischer Reihenfolge 461 Begriffe rund um das Grenzsicherungssystem der DDR und die Opfer des Grenzregimes. Angehängt sind 34 Dokumente, darunter das Original des so genannten Schießbefehls. „Viele der Informationen sind in bisher erschienenen Studien und Veröffentlichungen zum Thema noch nicht enthalten“, schreibt das Bürgerkomitee dazu. Gegen eine Gebühr von 10 Euro ist das Lexikon beim Verein Bürgerkomitee, Sommerauweg 27, 98544 Zella-Mehlis erhältlich und kann auch per E-Mail buergerkomiteethueringen@t-online.de bestellt werden.