Hubertus Schwarz war vor 70 Jahren Zeuge des DDR-Volksaufstandes

„Vergesst den 17. Juni nicht!“

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Hubertus Schwarz
Nachweis

Foto: Dorothee Wanzek

Der Berliner Katholik Hubertus Schwarz war vor 70 Jahren Zeitzeuge des DDR-Volksaufstandes. Jüngere Generationen mahnt er, sich für gerechten Frieden einzusetzen und dafür, dass nirgends in der Welt mehr Panzer rollen. 

Mit elf Jahren hatte Hubertus Schwarz 1945 den Einzug der Panzer der Roten Armee in Berlin miterlebt. Als er mehr als acht Jahre später, am 17. Juni 1953, in seiner Heimatstadt wieder die  Panzer rollen sah, erfasste ihn Angst. „Die angsterfüllte Stimmung lag in der Luft, die Erinnerungen an den Krieg waren bei allen Berlinern noch sehr lebendig. Heute glaube ich, den Machthabern ging es damals ganz gezielt darum, uns DDR-Bürger einzuschüchtern“, sagt der Ruheständler. 

Hubertus Schwarz mit einem Druck des Plakates, das er einige Tage nach dem 17. Juni am Oranienburger Tor aufnahm.
Foto: Dorothee Wanzek

Trotz seiner kritischen Grundhaltung gegenüber dem Regime hat er sich nicht aktiv an den Aufständen beteiligt. Mehr als die gestiegenen Arbeitsnormen für die Industriearbeiter bewegte den 19-Jährigen die Sorge um seinen Arbeitsplatz  und die Absicherung seines Lebensunterhalts. „Ich hatte nur mit Glück nach mehreren Anläufen eine Lehrstelle gefunden. Gerade hatte ich meine Bäckerlehre beendet und war sehr dankbar für meine Arbeit“, erinnert er sich. Um den Arbeitsplatz nicht zu gefährden und am 18. Juni trotz nächtlicher Ausgangssperre pünktlich in die Backstube zu kommen, machte er sich noch am Vorabend wieder auf den Weg dorthin und übernachtete bei einem Kollegen, der in Kost und Logis beim Bäckermeister wohnte.

Unter der Jacke heimlich Panzer fotografiert 

Auch seine Freunde aus der katholischen Jugendgruppe mischten sich nicht unter die Demonstranten, jedenfalls gaben sie das nicht in der Gruppe zu erkennen. An Predigten zur politischen Situation kann sich Hubertus Schwarz nicht erinnern. „Viele in den Reihen der katholischen Kirche hofften damals wohl noch auf eine friedliche Einigung. Wir vertrauten darauf, dass sich Ministerpräsident Otto Grotewohl, der sich nach außen weiterhin als ehemaliger SPD-Mann präsentierte, für die Forderungen der Arbeiter einsetzen würde“, schätzt Hubertus Schwarz ein. 

Ein russischer Panzer an einer Häuserzeile am Oranienburger Tor.
Foto: Hubertus Schwarz

Radioberichte, Panzer, Straßensperren und Plakate, die den Ausnahmezustand erklärten, nährten seine Angst vor steigenden Repressionen und vor einem neuen Krieg. Doch darunter mischte sich jugendliche Neugier. „Unter der Jacke versteckt hatte ich meine alte Spiegelreflexkamera. Aus der Wohnung meines Meisters und auf dem Heimweg quer durch die Stadt habe ich fotografiert: Panzer mit russischen Soldaten, Aufständische, die das Auto des CDU-Vorsitzenden Otto Nuschke kaperten, ausgebrannte Fahrzeuge ...“  
Seine Mutter kannte er als mutige Frau, die bereit war, für ihre Überzeugungen einzutreten. Dass er sich wegen der Fotos Ärger einhandeln würde, hielt sie aber für ein vermeidbares Risiko. Auf ihren Rat hin brachte er den Film deshalb bei einem Westberliner Freund in Sicherheit. 
Der Bäckermeister, mit dem er hinter vorgezogenen Vorhängen auf die russischen Panzer blickte, war 1949 als „Spätaussiedler“ aus Königsberg ausgewiesen worden. „Vor vier Jahren sind wir vor denen weggelaufen“, sagte er, als er das Treiben vor seinem Haus wahrnahm, „und jetzt stehen sie wieder vor unserer Haustür.“ Dieser Ausspruch kam Hubertus Schwarz seit Ausbruch des aktuellen Ukrainekrieges häufig in den Sinn. „Panzer gehören zu keiner Zeit in eine Stadt“, sagte er einer Journalistin des RBB vor zehn Jahren zum 60. Jahrestag der Aufstände. „Ich habe fast schon Angst, dass sie in Europa zur Regel werden könnten“, sagt er heute. „Ich glaubte gelernt zu haben, dass wir unsere Nationalität nicht gegeneinander ausspielen, sondern uns vor allem als Europäer verstehen sollten. An Gedenktagen wie dem 17. Juni können wir uns das vor Augen halten“, betont er. Den Gedenktag zu begehen, scheint ihm heute fast noch wichtiger als zur Zeit des geteilten Deutschlands.

Für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit

Dass der 17. Juni in der Bundesrepublik zum Nationalfeiertag wurde, ist in seinen Augen ein Zeichen dafür, dass der Aufstand nicht komplett gescheitert sei. Viele Forderungen der DDR-Aufständischen allerdings blieben unerfüllt. Hubertus Schwarz und seiner Frau wurde die Einflussnahme des Regimes auf ihr persönliches Leben mit dem Mauerbau schmerzlich bewusst. Da war Rosamaria Schwarz gerade mit dem ersten Kind hochschwanger, und es kam für das junge Paar nicht in Frage, das Land zu verlassen. 

Hubertus Schwarz (links) als Bäckergeselle mit einem Lehrmädchen im Jahr 1953.
Foto: Privat

Bei der Einschulung sechs Jahre später sagte die Schulleiterin: „Wenn diese Kinder aus der Schule kommen, haben wir den Kommunismus verwirklicht“. „Da ist mir zum ersten Mal schlecht geworden“, sagt Hubertus Schwarz. In den folgenden Jahren hat er immer wieder zu spüren bekommen, wie der Staat das Erziehungsrecht der Eltern beschnitt und Druck ausübte auf Schüler, die nicht bei den Pionieren, in der FDJ oder bei der Jugendweihe mitmachten. „Für unsere Familie war das Leben in der DDR  eine Gratwanderung. Ich bin dankbar, dass wir Priester und andere gute Wegbereiter an unserer Seite hatten. Bis zu einem gewissen Grad haben wir uns aber ans System angepasst“, sagt der 89-Jährige. 
Ihm ist es wichtig, heute als Zeitzeuge die Erinnerung an die Geschehnisse wach zu halten, die er in jungen Jahren miterlebt hat. Angesichts der Panzer, die in Kiew und vielen anderen Städten der Welt auch heute wieder die Menschen bedrohen, appelliert er an alle, sich nach Kräften für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu engagieren: „Wir brauchen keinen kalten Krieg. Auch der zerstört Leben. Wir brauchen echten Frieden!“

Dorothee Wanzek