Nachfahren von NS-Opfern und Tätern begehen 80. Jahrestag des Todesmarsches
Weichen stellen für Versöhnung
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Foto: Matthias Wehnert
Origami-Tauben schmückten den neuen Gedenkplatz für rund 30 Gefangene, die auf dem Todesmarsch in Schönwald starben. Am Ende der Feier stiegen sie in den Himmel.
Cornelia Stielers Großvater war schon lange tot, als sich in ihrem Kopf Bilder von Eisenbahnen zu bewegen begannen. Die Mutter hatte ihr oft von Schönwald erzählt, ihrer Kindheitsidylle in Schlesien, aus der sie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Thüringen vertrieben worden war. Dabei hatte sie auch erwähnt, dass ihr Vater, Cornelias Opa, als Lokführer vom Kriegsdienst verschont geblieben war. Wie nahe das Heimatdorf ihrer Familie am Konzentrationslager Auschwitz liegt, fiel Cornelia Stieler erst auf, als sie erwachsen war und viele Fotos und Filmszenen über die organisierte Menschenvernichtung der Nazis gesehen hatte. Vor ihrem inneren Auge begannen sich die Bilder der Viehwagen, in denen Männer, Frauen und Kinder zusammengepfercht und nach Auschwitz deportiert wurden, mit den Bildern ihres Opas zu verknüpfen, dem Lokführer aus dem Dorf Schönwald, nur 55 Kilometer vom Vernichtungslager entfernt. Und plötzlich kam eine Frage hoch, die sie seither nicht mehr loslässt: Hat Opa Deportationszüge nach Auschwitz gesteuert?
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Seit mehr als zehn Jahren sucht die inzwischen 59-jährige systemische Familientherapeutin Cornelia Stieler nach einer Antwort. Sie hat nichts gefunden, was die Beteiligung ihres Großvaters an den Deportationen unzweifelhaft beweist, dafür aber viele Hinweise, die sie wahrscheinlich machen.
Auf der Suche nach Klarheit in ihrer Familiengeschichte ist sie auf Widerstände gestoßen, sie hat aber auch Verbündete gefunden. Bei einer Weiterbildung zur Biografietrainerin fand sie zum Beispiel ihre Erkenntnis bestätigt, dass es gut tut, sich mit den schönen, aber auch mit den belastenden Erfahrungen auseinanderzusetzen, die in der eigenen Familie oder Gemeinschaft prägend waren. Unter den Teppich Gekehrtes beeinträchtigt die Lebenskraft von Menschen oft noch über mehrere Generationen, lernte sie dort. Mit anderen in aller Welt verstreuten Nachfahren ehemaliger Bewohner von Schönwald und einigen wenigen, die noch selbst die Vertreibung erlebt haben, gründete sie vom sächsischen Machern aus vor acht Jahren den Verein „Schönwalds Erben“.
Die Mitglieder wollen Geschichte und Kultur des Ortes ins Licht rücken. Cornelia Stieler sieht ihr Engagement in diesem Verein auch als Ausdruck ihres christlichen Glaubens. Ihr Anliegen ist es, mit den Vereinskollegen und den heutigen Bewohnern Schönwalds zur Heilung der Verletzungen aus der Kriegszeit und zur Versöhnung beizutragen. Nach dem Krieg wurden Galizier aus dem Grenzgebiet von Polen und der Ukraine nach Schönwald vertrieben, das heute Bojków heißt und ein Ortsteil von Gliwice ist. Als 2021 die belarussische Flüchtlingspolitik besonders in Polen die Angst vor einem Krieg anheizte, begann die Vereinsgründerin, gemeinsam mit dem Bojkówer Religionslehrer Krzysztof Kruszyński in Videochats für den Frieden zu beten.
Das ging so weiter, als Russland im Jahr darauf die Ukraine angriff. Als wenig später die ersten Flüchtlinge aus dem Nachbarland in Bojków Zuflucht suchten, stellten Vereinsmitglieder innerhalb von vier Wochen einen großen Hilfstransport auf die Beine. „Wir wollten den Bojkówern helfen, damit sie selbst gute Gastgeber für die Ukrainer sein können“, erläutert Cornelia Stieler. Drei Tage verbrachten die Nachfahren von Flüchtlingen und Vertriebenen aus Galizien und Schönwald mit den gerade aus der Ukraine geflüchteten Familien. „Wir waren beseelt von dem Gedanken, einander glücklich zu machen – und doch sind in den intensiven Tagen der Begegnung auch Fragen aufgekommen und Altlasten aus der Vergangenheit aufgebrochen“, sagt Stieler.
Der Lehrer, der mit ihr gemeinsam die Friedensgebete initiiert hatte und der ehrenamtlich die Ortschronik weiterführt, suchte zum Beispiel nach einer Erklärung, warum keiner der sogenannten Auschwitzer Todesmärsche durch Schönwald geführt hatte. So war es ihm berichtet worden. Cornelia Stieler dagegen hatte von ihrer Mutter gehört, dass KZ-Häftlinge in ihrem Heimatdorf einen Fluchtversuch unternommen hatten und daraufhin erschossen wurden. Nach der Heimkehr forschte sie von Deutschland aus weiter, der Religionslehrer suchte in Bojków nach weiteren Zeitzeugnissen. Die beiden fanden heraus, dass die Häftlinge, deren Todesmarsch in Schönwald endete, dort begraben wurden, wo heute der Sportplatz ist. Ausgerechnet an dieser Stelle ist gerade der Bau eines Kindergartens geplant. Zudem ergaben die Nachforschungen, dass Außenlager des KZ Auschwitz direkt an die Felder Schönwalder Bauern grenzten.
„Allein Gott kann Versöhnung stiften“
Die neuen Erkenntnisse passten nicht zu dem Bild, das sich Cornelia Stieler bisher von Schönwald gemacht hatte. Die ehemaligen Bewohner hatten ihr Dorf als eine Enklave beschrieben, die von den Umtrieben der Nazis unberührt geblieben war. Die aufrechten Katholiken dort hätten von Auschwitz nicht einmal etwas gewusst.
Was nun tun mit den neuen Informationen? Cornelia Stieler war überzeugt, dass sie als Nachfahrin Verantwortung trug, und dass die Wahrheit ans Licht kommen müsse, damit Verletzungen heilen können und Versöhnung möglich werde. Bei vielen Vereinskollegen stieß sie mit dieser Haltung auf Unverständnis. Manche baten sie, die Vergangenheit doch ruhen zu lassen, andere wehrten ihre Bemühungen aggressiv ab.
Aufgewühlt und voll innerer Anspannung zog sie sich für einige Tage nach Auschwitz zurück. Neben der KZ-Gedenkstätte ist dort vor einigen Jahren ein christliches Zentrum für Dialog und Gebet entstanden, das sich der deutsch-polnischen und der christlich-jüdischen Versöhnung widmet. Die Nachfahren der Nazi-Opfer, aber auch die der Täter können hier zur Ruhe kommen und erfahren, sofern sie das wünschen, geistliche Begleitung. „Schon als ich dort ankam, habe ich völlig unerwartet einen tiefen Frieden in mir gespürt“, erzählt Cornelia Stieler. Der Aufenthalt im Zentrum habe ihr neue Kraft gegeben. Besonders bestärkt fühlte sie sich durch die heilige Messe, die der deutsche Priester Manfred Deselaers, der das Zentrum leitet, spontan mit ihr feierte.
„Danach war es, als wäre eine Lawine losgetreten worden“, sagt Cornelia Stieler. Immer mehr Nachfahren von Schönwaldern erzählen ihr von den Schuldverstrickungen ihrer Vorfahren. In auffällig vielen Familien häufen sich in den nachfolgenden Generationen psychische Erkrankungen und Suizide. Manchmal bringt es sie an ihre Grenzen, von all dem Leid zu hören und sie fragt sich dann: „Was will Gott bloß von mir?“
Als Kraftquelle hat sie nicht nur die Sakramente der Kirche in größerer Intensität neu für sich entdeckt. Auch die Marienfrömmigkeit, der sie sich nach negativen Erfahrungen entwachsen glaubte, spielt jetzt wieder eine Rolle in ihrem Leben. In einer Kirche unter 500 Polen spürte sie auf einmal, welche innere Wärme für sie vom Rosenkranzgebet ausging und sie wünschte sich, es auch wieder in ihrer Muttersprache beten zu können. Vor kurzem hat sie erstmals bewusst das Gebet aus Fatima gehört, das ältere Katholiken zuweilen zwischen die Rosenkranzgesätze einfügen. Sie beten dort besonders für all jene, die Gottes Barmherzigkeit besonders bedürfen.
Cornelia Stieler fielen zuerst die Naziverbrecher ein. Betend wird ihr zuweilen bewusst, dass allein Gott es ist, der heilen, Versöhnung stiften und vergeben kann. Sie möchte daran mitwirken und manchmal erlebt sie dabei Lichtblicke – wenn Polen und Deutsche einander zuhören und die Sicht der anderen auf die schwierige gemeinsame Geschichte in ihrem Herzen bewegen oder wenn sie miterlebt, dass der Enkel einer KZ-Inhaftierten mit dem Enkel einer ehemaligen Schönwalderin zusammen für ihre Großeltern eine Kerze anzünden.
Enkel der Täter beten mit Enkeln der Opfer
Einiges hat Cornelia Stieler mit den Vereinsmitgliedern und den Bojkówern noch vor. Ein großer Meilenstein war eine Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Todesmarsches am 19. Januar, mit einer heiligen Messe, der Enthüllung eines Denkmals für die Opfer des Todesmarsches und einem Schweigemarsch.
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Foto: Matthias Wehnert
Auf genau der Route, über die damals zehntausende Häftlinge durch Schönwald getrieben wurden, bewegten sich nun schweigend und betend mehrere hundert Menschen, Polen und Deutsche, Juden, Sinti und Roma, Politiker und Nachfahren der Opfer, darunter auch der Amsterdamer Rabbiner Lodi van de Kamp, dessen Vater Zwangsarbeiter im nahen KZ-Außenlager gewesen war. „Meine Mutter war damals fünf Jahre alt. In ihr Gedächtnis hat sich das laute Schlurfen und Klappern der vielen Holzpantinen auf dem Straßenpflaster gebrannt“, erzählt Cornelia Stieler. Dort, wo vor 80 Jahren Schönwalder Bürger standen und zuschauten, wie Gefangene geschwächt zusammenbrachen und erschossen wurden, sah sie 80 Jahre später Bojkówer, teilnahmsvoll, mit brennenden Kerzen, die sie in ihre Fenster gestellt hatten, versunken im Rosenkranz-Gebet. Das hat ihre Hoffnung gestärkt: „Im Glauben können wir die alten Wunden gemeinsam überwinden.“ Dazu helfen die Gebete und alles, was sie tun, um die Wahrheit ans Licht und die Nachfahren von Tätern und Opfern ins Gespräch zu bringen. Zusammen mit Krzysztof Kruszyński arbeitet sie an einem Buch über ihre bisherigen Erfahrungen mit Aufarbeitung und Versöhnung.
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Foto: privat
Auf Deutsch und Polnisch möchten sie erzählen von ihren Schritten zum Frieden. Sie möchten denen innere Ruhe geben, die mit sich die Schuld ihrer Vorfahren herumschleppen und denen, die ihre Schuld mit ins Grab genommen haben – auch den Lokführern der Deportationszüge nach Auschwitz.