Anstoß 46/22
Am Tisch
„Der Ort, an dem Jesus das Evangelium weitergegeben hat, war der Tisch und nicht der Schreibtisch. Am Tisch haben viele Platz, am Schreibtisch nur einer. Am Tisch redet man miteinander. Am Schreibtisch grübelt man vor sich hin.“ (Rolf Zerfaß)
Zur Zeit Jesu haben sich die Menschen das Paradies ganz selbstverständlich als Festessen vorgestellt. Mit Gott als Gastgeber wird an einem großen Tisch gefeiert: das Leben, die Versöhnung, der Neuanfang, der Himmel. Daher spielt das gemeinsame Mahl im Neuen Testament eine wichtige Rolle. Eine Tisch-Schlüsselszene ist beispielsweise Jesu Besuch bei einem Zöllner zu Hause (Mk 2,15-17). Die Botschaft ist im übertragenen Sinn, dass Gott bewusst die Gestrandeten aufsucht, die Außenstehenden, um mit ihnen Gemeinschaft zu pflegen. Das hat Mitglieder der gesellschaftlich-religiösen Elite damals auf die Palme gebracht.
Jesus versammelt alle um den Tisch, die eine Sehnsucht im Herzen tragen, die ihr Leben ändern wollen. Ihnen, den Bettlern, Dirnen, Zöllnern, den Vornehmen und Heruntergekommenen, den Kranken und Entrechteten gibt er das Evangelium, die frohe Botschaft weiter: Gott ist die Liebe und feiert das Leben; in dieser Liebe ist Umkehr möglich. Die Tischrunde ist ein Vorgeschmack auf den Himmel.
„Der Ort, an dem Jesus das Evangelium weitergegeben hat, war der Tisch und nicht der Schreibtisch.“ Dieses Statement ist von bemerkenswerter Aktualität für die Situation unserer Kirche: Die Kraft unseres Glaubens wird bei Tischrunden geteilt und freigesetzt und nicht, wie so oft, vom Schreibtisch aus diktiert. Viele unserer konzeptionellen pastoralen Überlegungen greifen nicht, weil sie den Alltagstest nicht bestehen.
Der Tisch ermöglicht menschliche Begegnungen. Sich an einen Tisch setzen, um gemeinsam Krisen zu lösen oder schöne Dinge zu schaffen: beispielsweise beim Adventsbasteln; oder bei der Essensausgabe für Arme und Bedürftige in der Gemeinde; oder beim Treffen der „Selbsthilfegruppe für Freunde und Angehörigen von Suchtkranken“ im Gemeinderaum. Die Tischgemeinschaft um den Altar greift dann am Stärksten, wenn sie diesen Sitz im Leben hat.