Warum der Journalist Richard C. Schneider sich um Israel sorgt
"Da entstehen unglaubliche Spannungen"
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Seit fast neun Monaten gehen Hunderttausende Israelis auf die Straßen und protestieren gegen die umstrittene Justizreform, die das Oberste Gericht Israels in seinen Kompetenzen massiv einschränken soll. Wie erleben Sie die Situation im Land?
Die Stimmung ist verheerend. Die Spaltung innerhalb der israelischen Gesellschaft vertieft sich. Die Gruppen radikalisieren sich und stehen einander immer unversöhnlicher gegenüber. Das ist etwas, was über Jahre hinaus nicht zu kitten sein wird. Sollte das liberale Lager die Regierung an der Justizreform hindern können, wäre das kein Sieg. Die wirtschaftlichen, kulturellen und sicherheitspolitischen Folgen dieses Konflikts werden uns über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte begleiten.
Hat der Konflikt um die Justizreform neue Spannungen gefördert?
Die Risse, die wir jetzt sehen, waren immer da. Man hat sie nur immer wieder übertüncht und als nichtig abgetan – vor allem die Entwicklung des radikalen religiösen Zionismus, der in den israelischen Siedlungen im Westjordanland begonnen hat. Viele liberale Israelis haben diese Leute als Spinner abgetan. Man hat sie nicht ernst genommen, diese Leute, drüben, jenseits des Sicherheitszauns. Man hat sich gesagt: Ja, die sind zwar in der Politik und besetzen einige wichtige Positionen in den Ministerien, aber es ist doch nur eine Minderheit.
Ein Trugschluss?
Ja. Diese kleine Minderheit geht schon lange sehr geschickt und strategisch vor. National-religiöse Gruppen ziehen sehr bewusst in säkulare Stadtviertel, etwa von Tel Aviv, um dort ihre Ideologie zu lehren und im Grunde genommen die Gesellschaft zu verändern. Das habe ich während meiner Zeit in Jaffa erlebt.
Inwiefern?
Ein paar radikale Siedler kommen und gründen erst einmal Jeschivot, Talmud-Schulen. Dann ziehen mehr Leute nach. Sie wohnen zum Beispiel in Mehrparteienhäusern – und verlangen plötzlich, dass am Sabbat die Lifte nicht mehr fahren dürfen. Sie halten Gebete oder Versammlungen auf öffentlichen Plätzen ab und bringen so den Verkehr zum Erliegen. Sie provozieren nach dem Motto: Das machen wir jetzt hier und ihr anderen habt euch unterzuordnen. Diejenigen, die nicht bereit sind, das mitzumachen, organisieren Protest. Da entstehen unglaubliche Spannungen und Konflikte. Das ist es, was wir momentan im ganzen Land sehen.
Und jetzt sind Politiker wie die Rechtsextremisten Itamar Ben-Gvir oder Bezalel Smotrich, die aus der Siedlerbewegung stammen, als Minister in der Regierung.Was wollen sie erreichen?
Sie wollen ein komplett anderes Israel aufbauen. Ein Land, das ganz anders ist als jenes Israel, das es jetzt seit 75 Jahren gibt. Sie träumen von Eretz Israel, also davon, dass das gesamte Land, das Gott dem Volk Israel in der Tora versprochen hat, zum Staatsgebiet wird. Das beinhaltet auch das Westjordanland.
Wie gefährlich sind diese Politiker für den Zusammenhalt der Gesellschaft?
Ich will sie nicht mal echte Politiker nennen. Das sind Figuren mit politischen Meinungen, die radikal bis extremistisch denken und agieren. Sie wollen ausschließlich ihre Ideologie in die Realität umsetzen – ohne Rücksicht auf Verluste. Es geht ihnen nicht um Konsens oder darum, den Staat zusammenzuhalten. Sie verstehen auch nicht, dass das, was sie tun, massive Konsequenzen in der Wirtschaft und in der Sicherheitspolitik hat …
… viele Firmen fürchten um die Stabilität der Demokratie, die Spannungen mit den Palästinensern nehmen weiter zu …
… und all das leugnen sie. Nicht, weil sie dumm sind. Sondern weil sie religiös getrieben sind. Und religiöser Furor ist immer gefährlich – egal in welcher Religion.
Welche Auswirkungen hat diese Politik auf die Minderheiten im Land, zum Beispiel auf die Christen?
Die Christen sind eigentlich die unwichtigste Gruppe. Es sind so wenige, in Jerusalem, in Nazaret. Die fallen kaum auf. Es sind vor allem die Araber, die Frauen, die LGBTQ+-Menschen und die säkular-liberalen Juden, die unter dieser Regierung leiden. Sie sind für diese Koalition zum Feindbild geworden.
Wie zeigt sich das?
Belazel Smotrich nennt sich selbst einen faschistischen Homophoben – öffentlich und voller Stolz. Orit Strock, die Ministerin für nationale Missionen, sagte vor einigen Monaten, Ärzte sollten Homosexuelle nicht behandeln müssen, wenn es ihrem Glauben widerspricht. Es gab einen heftigen Protest von Ärzten und Krankenhäusern, die sagten, dass sie selbstverständlich weiterhin alle Menschen behandeln werden.
Sie sind selbst Jude, lebten fast 20 Jahre in Israel und pendeln weiterhin zwischen Deutschland und Tel Aviv. Was fühlen Sie angesichts dieser drastischen Veränderung?
Ich bin hier in eine Krise hineingeraten, bei der es an der Oberfläche scheinbar um Politik geht – um die Wahl zwischen einer liberalen Demokratie und einem autoritären System. Darunter tobt aber ein Kampf: Welches Judentum wollen wir eigentlich? Wirkliche Sorgen bereitet mir noch eine andere Entwicklung: Das Judentum in Israel und das Judentum in der Diaspora trennen sich allmählich. Mittel- und langfristig wird die jüdische Diaspora auf sich allein gestellt sein. Und es gibt Bestrebungen in den extremen Teilen der Regierung, die Bindungen mit der Diaspora zu kappen.
Inwiefern?
Nach der orthodoxen Erklärung ist Jude, wer Kind einer jüdischen Mutter ist oder wer nach dem orthodoxen Ritus konvertiert ist. Und die Orthodoxie hat in Israel das religiöse Monopol. Aber es gibt in Israel auch das Rückkehrgesetz, also die Erlaubnis zur Einwanderung und da wird „Jude“ weiter definiert: Auch jemand, der nur einen jüdischen Großvater väterlicherseits hatte, der also nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, absolut kein Jude ist, kann nach Israel einwandern und die Staatsbürgerschaft erhalten. Denn auch das waren Menschen, die im Zweiten Weltkrieg als Juden verfolgt wurden, möglicherweise im KZ waren und als „Juden“ gelitten haben. Smotrich hat nun vorgeschlagen, dieses Großelternprinzip aufzuheben.
Was würde das bedeuten?
Hunderttausende Menschen, vor allem in Amerika und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, hätten kein Anrecht mehr, nach Israel einzuwandern. Wir reden hier von Menschen, die sich in irgendeiner Form dem Judentum zugehörig fühlen. Anstatt sie zu umarmen und im Land willkommen zu heißen, stößt man sie ab. Dieser Ausschluss wäre eine bewusste Ablehnung einer Entwicklung in der Diaspora, die zwangsläufig war: In vielen Ländern gab es einfach nicht genug Juden, um immer nur innerjüdisch heiraten zu können. Es sieht nicht danach aus, dass Smotrich sich mit diesem Vorschlag durchsetzen kann. Aber allein die Tatsache, dass er diskutiert wird, zeigt, wie sehr sich das Verhältnis zwischen Diaspora und Israel verändert.
Was heißt es für Sie, Jude zu sein?
Für mich gibt es zwei Formen meines Judentums. Die eine ist: Ich gehöre zu einer Schicksalsgemeinschaft. Es gibt den berühmten Satz: „Wenn du vergisst, dass du ein Jude bist, wird dich deine Umwelt schon daran erinnern.“ Das habe ich immer wieder erlebt. Ich bin ein Leben lang mit Antisemitismus konfrontiert gewesen.
Und die andere Form Ihres Judentums?
Das ist die religiöse Frage. Ich komme aus einer Familie, die vor dem Krieg ultra-orthodox war. Meine Eltern waren nach der Shoah eher traditionell. Sie haben mir eine religiöse Erziehung mitgegeben, weil sie wollten, dass ich über das Judentum Bescheid weiß und mich darin bewegen und verhalten kann.
Und wie gläubig sind Sie?
Wie bei jedem Menschen, so gab es auch bei mir Phasen, in denen ich praktizierend und sehr religiös war. Dann konnte ich damit wieder nichts anfangen. Heute praktiziere ich meinen Glauben nicht mehr. Das hat aber auch viel mit meinem Leben in Israel zu tun.
Wie meinen Sie das?
In der vergangenen Woche war Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag. Wenn ich beispielsweise den in München in irgendeiner Form spüren will, muss ich in die Synagoge gehen. Denn draußen ist der normale nicht-jüdische Alltag. In Israel spürt man den Feiertag überall. Meine 19 Jahre dort haben mich sehr geprägt. Ich brauche die Synagoge als identitätsstiftenden Ort nicht mehr.
Wo leben Sie lieber: in Deutschland oder in Israel?
Am liebsten unterwegs. Denn eines ist klar: In Deutschland wird man als Jude nie wirklich als echter Deutscher angesehen. Aber wenn man aus der Diaspora kommt und in Israel lebt, ist man nicht automatisch ein Israeli. Die israelische Identität ist etwas anderes als das Diaspora-Judentum. Ich spreche zwar Hebräisch, aber es ist natürlich nicht meine Muttersprache, was extrem identitätsstiftend ist, oder auch: der prägende Armeedienst. Am einfachsten, normalsten und authentischsten könnte ich mit meiner jüdischen Identität wohl in New York leben.
Warum ausgerechnet dort?
Man lebt dort auch in der Diaspora. Aber gleichzeitig ist das Jüdische eine große Selbstverständlichkeit in dieser Stadt. Zu Weihnachten finden Sie auf den Straßen Weihnachtsbäume und Chanukka-Leuchter, oft direkt nebeneinander. Jeder weiß um die Feiertage des anderen. In Deutschland bemerke ich immer wieder: Das Gros meiner Freunde hat keine Ahnung, wann ich Jom Kippur oder Rosch ha-Schana feiere.
Ist Israel für Sie trotz allem zur Heimat geworden?
Ich habe mehrere Heimaten – Israel gehört definitiv dazu. Vor Jahren bin ich einmal gefragt worden, ob Tel Aviv für mich mehr Heimat ist als München.
Was haben Sie geantwortet?
Mit einem Gedankenspiel: Ich lebe in Sydney, wache eines Morgens auf und höre, dass eine Atombombe München zerstört hat. Meine Heimatstadt ist zerstört, vermutlich viele meiner Freunde tot. Ich wäre ein zerstörter Mensch – und dann ginge das Leben irgendwie weiter.
Und wenn eine Bombe Tel Aviv träfe?
Dann weiß ich – egal, wo ich leben würde –, es hätte unmittelbare Konsequenzen auf mein Leben als Jude. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen, wenn etwas in Israel geschehen würde, sind für jeden einzelnen Juden von größerer Konsequenz, als wenn die eigene Heimatstadt zerstört würde.
Können Sie das erläutern?
Nach der Shoah war Israel eine Notwendigkeit. Die Shoah hat gezeigt, dass Juden ohne einen eigenen jüdischen Staat im Zweifel schutzlos sind. Staatsbürger eines Landes zu sein, vielleicht sogar einer, der für das Land gekämpft hat, so wie viele deutsche Juden im Ersten Weltkrieg, ist keine Garantie für nichts. Da, wo man ist, ist man nie zu 100 Prozent sicher: Das ist eine Erfahrung, die meine Generation, die zweite nach der Shoah, ganz tief verinnerlicht hat. Israel war eine Rückversicherung. Ob das auf Dauer so bleiben wird, ist momentan nicht absehbar.
Hat sich Ihr Blick auf das Land durch Ihre Arbeit verändert?
Ja, klar. Wie alle in der Diaspora bin ich mit einem Israelbild groß geworden, das ausschließlich positiv war. Ich bin mit meinen Eltern nach Israel gefahren, wir haben dort Urlaub gemacht, Freunde und Familie besucht. Alles war prima.
Und dann?
Ich habe 1987 angefangen, journalistisch zu Israel zu arbeiten. Ich war immer wieder dort, habe Filme gedreht, Artikel und Bücher geschrieben. Ich war in den besetzten Gebieten, ich war in Gaza und habe schon sehr früh das gesamte Spektrum der israelischen Gesellschaft kennengelernt. Dieses Schwarz-Weiß-Denken, das häufig in deutschen Medien auftaucht, stimmt nicht: Israel ist böse, Palästina ist gut. So simpel ist es nicht. Und je mehr ich mich damit beschäftige, desto schwieriger wird es, jemandem eindeutig die Schuld zuzuweisen für das ganze Unglück im Land. Da ist so viel Aktion und Reaktion auf beiden Seiten und beide Seiten machen so vieles falsch.
Welches andere Bild von Israel haben Sie kennengelernt?
Ich war in Siedlungen im besetzten Gebiet, wo der örtliche Rabbiner im engen Kontakt mit dem muslimischen Ortsvorsteher der umliegenden palästinensischen Dörfer steht. Dort gibt man den Palästinensern sowohl medizinische wie auch bürokratische Hilfe. Wenn die Dorfbewohner Schwierigkeiten mit den israelischen Behörden haben, geht der Rabbiner mit seinen Mitarbeitern und den Arabern nach Jerusalem zu den Behörden, um das Problem zu lösen. Das widerspricht allem, was man so gängig von israelischen Siedlern denkt.
Und doch gibt es die Gegenseite.
Ja. Palästinenser, die Anschläge verüben – und radikale Siedler, die Palästinenser umbringen. Es gibt furchtbar viel Schreckliches. Und je länger ich über das Thema schreibe, desto verzweifelter werde ich, weil ich immer weniger glaube, dass überhaupt irgendeine Seite noch eine Lösung will.
Wie kann die Zukunft Israels aussehen?
Ich weiß es nicht. Ich mache mir große Sorgen. Ich glaube schon lange nicht mehr an die Zwei-Staaten-Lösung, aber es gibt auch keine Alternative dazu. Dieser Satz ist schon ein Widerspruch. Und das ist es, was der Konflikt mit einem macht: Man ist ununterbrochen in solche Widersprüche verstrickt und versucht, irgendwie damit zurechtzukommen. Man hat gleichzeitig das Gefühl, dass man all das nicht will, dass man sich alldem aber auch nicht entziehen kann.
Interview: Kerstin Ostendorf
Zur Sache: Autor und Journalist
Richard C. Schneider (66) ist Autor und war langjähriger Israel-Korrespondent der ARD. Er lebt in München und Tel Aviv. In seinem Buch „Die Sache mit Israel“ erklärt er anhand von fünf Fragen Grundlegendes zur Geschichte Israels, zum Konflikt mit den Palästinensern und räumt mit Vorurteilen auf.
Richard C. Schneider, Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land, Spiegel, 192 Seiten, 22 Euro