Grenzdurchgangslager Friedland
Das Lager der Barmherzigkeit
Vor 75 Jahren wurde das Grenzdurchgangslager Friedland eröffnet. Bis heute war und ist es für über vier Millionen Menschen ein Wendepunkt in ihrem Leben: ein „Tor der Hoffnung“, eine „Tür im Eisernen Vorhang“, eine „Drehscheibe menschlicher Schicksale“. In drei Teilen stellen wir verschiedene Aspekte des Lagers vor: Den Anfang, die Heimkehrerkirche St. Norbert und die aktuelle Arbeit der Caritas im Grenzdurchgangslager.
Von Anfang an immer „mittendrin“ waren – und sind – dabei die großen Wohlfahrtsverbände, denen die Jahrzehnte hindurch im „Lager der Barmherzigkeit“ stets eine erhebliche Bedeutung im Alltag und Auftrag des Grenzdurchgangslagers Friedland zugekommen ist. Am 26. September 1945 nahm das Lager Friedland unter der Leitung der Britischen Militärregierung offiziell seinen Betrieb auf. Nur wenige Wochen später begannen die Caritas und die Diakonie als Vertreter der katholischen beziehungsweise evangelischen Kirche sowie das Deutsche Rote Kreuz hier ihre Arbeit. Diese „konzertierte Aktion“ war von unbedingter Notwendigkeit, kamen doch allein im Jahr 1945 insgesamt 542 000 Menschen nach Friedland: 344 000 auf dem Weg von Ost nach West und 198 000 in der anderen Richtung; 1946 kamen Tag für Tag rund 8000 Menschen nach Friedland. Meist blieben sie nur für kurze Zeit vor Ort und wurden nach ihrer Registrierung weitergeschickt: Allein im April 1946 kamen so zum Beispiel über 50 000 Flüchtlinge und Vertriebene in den Landkreis Peine, 44 500 in den Landkreis Holzminden, 40 600 in den Landkreis Hildesheim und 13 500 in den Landkreis Alfeld. Jeder Landkreis bekam sein Kontingent zugewiesen.
Auf Pater Leppich folgte Josef Krahe als Lagerpfarrer
Nachdem die kirchlich-seelsorgliche Betreuung der Katholiken im Grenzdurchgangslager Friedland zunächst durch Pfarrer Robert Marheineke, St.-Paulus-Gemeinde Göttingen, wahrgenommen worden war, kam im Frühsommer 1946 der ob seiner „besonderen“ Predigtformate und -inhalte später ungemein bekannt gewordene Jesuitenpater Johannes Leppich nach Friedland, der ganz bewusst „aktiv“ und „optimistisch“ auf die Menschen zuging: „Wir sind in diesen neuen seelsorglichen Herausforderungen viel zu zahm. Wir haben zu wenig Linie, zu wenig Format, zu wenig frische Menschen mit Initiative. … Und wenn dann irgendwo einmal eine segensreiche Initiative ist, muss man auch mit einem gewissen Wildwuchs rechnen. Dieser ist aber immer noch verzeihlicher als die furchtbare Lahmheit auf allen Gebieten dieser neuartigen Arbeit. … Es müssen heute oft Dinge entschieden werden, die morgen nicht mehr akut sind. Es fehlt uns bisweilen auch eine gewisse Großzügigkeit, einfach mal Menschen mit einer Aufgabe zu betrauen, so wie wir jetzt acht Helfer – hauptamtlich – mit eigenem Geld eingebaut haben.“
Aus gesundheitlichen Gründen musste Pater Leppich Friedland nach nur einem halben Jahr wieder verlassen und ihm folgte der Kölner Diözesanpriester und spätere Prälat Dr. Josef Krahe (1914–2005) nach – für gut 12 Jahre. Lagerpfarrer – so sein offizieller Titel. Krahe wusste um die besondere Aufgabe, die besondere Funktion Friedlands, wozu er schon im Sommer 1948 schrieb: „Wir haben etwas Angst, dass unsere Heimkehrer in ihren Erwartungen enttäuscht werden. Sie sind sich bewusst, dass wir ein besiegtes Volk sind und dass darum das Leben daheim schwer ist. Sie erwarten kein Paradies, aber sie erwarten, dass man ihnen eine Wohnung gibt und eine Existenzmöglichkeit verschafft. Dass die Menschen, in deren Mitte sie wieder hineinwachsen, ihnen Brüder und Schwestern seien. Dass die, für die sie gelitten und geopfert haben, bereit sind, von ihrem Wenigen den Heimkehrern, die alles verloren haben, noch mitzugeben. Die Heimkehrer erwarten eine Atmosphäre, in der sie wieder ganz Mensch sein dürfen. Sie müssen sich wieder langsam im normalen Leben zurechtfinden. Das verlangt von den Übrigen viel großes Rücksichtnehmen und ein echtes Verstehenwollen. Sie erwarten, dass mit dem Gebot der Liebe ernst gemacht wird.“
Der Botschafter der Menschlichkeit
Immer wieder wandte sich Pfarrer Krahe mit der Bitte um Unterstützung des Lagers Friedland an die deutschen Bistümer und Caritasverbände sowie an die Bundesregierung und die verschiedenen Landesregierungen. Darüber hinaus war er verschiedentlich auch selbst ausgesprochen „kreativ unterwegs“: Ihm gelangen unter anderem „Umleitungen“ von eigentlich anderweitig eingeplanten Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen nach Friedland sowie die Einbindung des sogenannten „Bauordens“, in dem vornehmlich holländische und belgische junge Erwachsene für eine gewisse Zeit in Friedland mitarbeiteten.
Im Blick auf eine Professionalisierung der sozial-caritativen Arbeit im Grenzdurchgangslager Friedland erarbeitete Pfarrer Krahe 1953/54 eine Art „Zuständigkeitsordnung“, nach der sich fortan die Arbeiterwohlfahrt um die Säuglinge und Kleinkinder, das Rote Kreuz um die Kinder zwischen drei und 15 Jahren, die Diakonie um die weibliche Jugend ab 16 Jahren und die weiblichen Erwachsenen sowie die Caritas um die männliche Jugend ab 16 Jahren und die männlichen Erwachsenen kümmern sollten; diese Grundverabredung blieb bis in die frühen 1960er-Jahre in Kraft.
Ein wichtiges Anliegen war dem Lagerpfarrer auch ein „Umgang auf Augenhöhe“ mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, für die er stets ein „offenes Ohr“ hatte: Caritas und Seelsorge waren seines Erachtens nach nur „im Team“ möglich, ohne besondere Hierarchien und Privilegien, weswegen er auch selbst lange in einer der vielen sogenannten Nissen-Hütten im Lager lebte.
Caritasarbeit im Grenzdurchgangslager Friedland: Gerade in den ersten zehn Jahren war das eine „Kombination“ aus Organisation und Improvisation, primär der Verantwortlichen vor Ort, die stets eigenständig und eigenverantwortlich agieren konnten. Wobei die persönliche Zuwendung zu den Menschen, die nach Friedland kamen, stets besonders wichtig war – und von Krahe dem „Botschafter der Menschlichkeit“ vorgelebt wurde.
Thomas Scharf-Wrede