Dem Mitgliederschwund in den Kirchen begegnen – Veranstaltungsreihe in Leipzig
Den Ausgetretenen zuhören
Dem Kirchenaustritt geht oft ein langer Prozess des Nachdenkens darüber voraus. (Symbolbild) Foto: imago images/U. J. Alexander |
Der große Andrang war unerwartet. Zu den 100 Stühlen im Saal der Propsteikirche Leipzig mussten weitere 20 dazugestellt werden. Ein reges Interesse begleitet also dieses zur Tradition gewordene „Winterseminar“ des Dekanats Leipzig in Zusammenarbeit mit dem Leibniz Forum nach der Coronazeit. Sicher auch, weil das Thema aufhorchen lässt: „Exit – Was wir von der Welle der Kirchenaustritte lernen können.“
Keiner hat sich die Entscheidung leicht gemacht
Der erste Abend war – anders als sonst üblich – ein reiner Zuhörabend. Sechs Menschen kamen zu Wort, die ihre Gründe aufführten, warum sie zuletzt aus der katholischen Kirche austraten. Vier waren im Saal, von zwei weiteren wurden Texte vorgelesen. Allen gemeinsam war, dass sie sich die Entscheidung nicht leicht gemacht haben. Von einem „Kampf, der der Entscheidung vorausgeht“ sprach einer von ihnen.
Philipp Wilde will als Laie ein Zeichen setzen. |
So schreibt Joachim Sina, der zwar 1966 katholisch getauft wurde, aber keine besonders religiöse Erziehung erfahren hat, dass sein Glaube besonders durch Klöster und deren Gemeinschaften geprägt wurde. Die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der Amtskirche kritisiert der fünffache Vater aus Köln vor allem deshalb, weil er anderswo einen ernsthaften Aufklärungswillen erfahren habe. Im Kirchenapparat dagegen gehe es um „Machterhalt“. Die Finanzierung der Kirche durch die Kirchensteuer verfestige die Macht. Ganze 15 Jahre habe er die Frage des Kirchenaustritts überdacht und sei zu dem Schluss gekommen: „Es braucht mehr Druck von unten.“ Er fühle sich der Kirche weiterhin verbunden und wolle sich eine Gesellschaft ohne Kirche nicht vorstellen. Seine „Kirchensteuer“ spende er jetzt Projekten im Bereich der Orden.
Ein richtiger Vorzeige-Katholik war Philipp Wilde. Der Bauingenieur stammt aus dem Erzgebirge, die Großeltern hatten schlesische Wurzeln und in der kleinen, aber starken katholischen Gemeinschaft ein neues Zuhause gefunden. Philipp Wilde wurde Ministrant, machte seinen Zivildienst im katholischen Winfriedhaus und begleitete Wallfahrtsgruppen bis nach Rom. Eine Zäsur war für ihn die Vaterschaft. Als seine Frau das erste Kind erwartete, lebten sie ebenfalls in Köln und er fragte sich: „Welche Verantwortung habe ich gegenüber dem Kind? Kann ich es einer so rückwärtsgewandten Kirche anvertrauen?“ Als Vater könne er nicht dahinterstehen, dass Täter gedeckt würden. Auch er kenne es aus seiner Jugend, dass es übergriffige Priester gegeben habe, die aber zur Rede gestellt wurden und Konsequenzen spürten. Es müsse offen über sexuellen Missbrauch geredet werden, nur so könne sich etwas ändern.
Monika Voigtländer braucht Zeit, die sie sich jetzt nimmt. |
„Ich sehe die Zukunft der Christen nur in einer lauten Ökumene.“
Geprägt dadurch, dass sich seine Heimatgemeinde in der evangelischen Kirche im Ort traf, sagt Wilde: „Ich sehe die Zukunft der Kirche nur in einer lauten Ökumene.“ Demografisch seien Christen in Ostdeutschland längst in der Minderzahl. Er war es leid, sich in einem nichtchristlichen Umfeld immer wieder rechtfertigen zu müssen, Katholik zu sein. Er betont: „Ich drehe der Kirche nicht komplett den Rücken.“ Auch er will mit dem Entzug der Kirchensteuer ein Zeichen setzen. Und schließlich habe der Austrittsprozess auch etwas Gutes gehabt, denn er habe sich gefragt: „Was möchte ich eigentlich wirklich?“ und habe wieder angefangen zu beten.
Die Förderschullehrerin Monika Voigtländer trägt ihre Gedanken stichpunktartig vor. „Mit 42 immer noch ein schlechtes Gewissen haben bei der Verletzung des Sonntag-Gebotes“, lautet einer.
„Wo war meine Gemeinschaft, als ich sie am meisten brauchte?“
Besonders aufrüttelnd ist der Bericht von Gerlind Große, die persönlich nicht anwesend sein kann. Die Professorin für frühkindliche Bildungsforschung an der Uni Potsdam war selbst erst 2021 in die Kirche eingetreten. Bei einem Auslandsaufenthalt in Irland hatte sie eine starke christliche Gemeinschaft kennengelernt. Zurück in Leipzig machte sie sich auf die Suche, fand Anschluss in der Propsteigemeinde und besuchte einen Hauskreis. Auch ihr Mann ließ sich taufen. Dann erkrankte ihr Sohn schwer, die Ehe zerbrach. In ihrem Text fragt sie: „Wo war meine Gemeinschaft, als ich sie am meisten brauchte? Aus meinem Hauskreis kam niemand vorbei.“ Da waren andere: ihre Eltern, ihre alten Freunde. Als Geschiedene fühle sie sich in der Kirche unsicher, fand nicht mehr in die Gemeinschaft zurück. Und schließlich seien ihr die Sexuallehre, der Missbrauchsskandal und die Position der Frauen in der Kirche Themen, bei denen sie es „leid ist, die Kirche zu verteidigen“.
Das Ehepaar Doreen Geidel und Matthias Lang ließ trotz Kirchenaustritt ihre zwei Kinder taufen. Fotos: Ruth Weinhold-Hesse |
Auch das Ehepaar Doreen Geidel und Matthias Lang erzählen ihre Geschichten. Die Rechtsanwältin Geidel kam als Kind aus Stuttgart nach Leipzig, den Anschluss an eine katholische Gemeinschaft fand die zugezogene Familie nicht. Der Pfarrer im Religionsunterricht konnte die Jugendliche nicht abholen und erschien ihr „altbacken“. Es fehlte ihr schlichtweg die Bindung zur Kirche, resümiert sie. Der Bauingenieur Lang erlebte den Bruch, als er aus Herzberg im südlichen Brandenburg nach Leipzig zog und hier selbst nie aktiv eine Gemeinde suchte. Mit der Familiengründung kam dann bei beiden auch die Frage nach den Finanzen auf. Die Kirchensteuer erschien als große Summe, die „ich nicht jemandem monatlich in die Hand geben würde, wenn er in meinem Wohnzimmer sitzt und mich fragt, ob ich für die katholische Kirche spende“, so Doreen Geidel. Trotzdem hat das Ehepaar seine zwei Kinder taufen lassen, weil sie das „Wertekonzept des Glaubens sehr wertvoll finden.“
Nach jedem Beitrag soll das Gesagte in 100 Sekunden Stille nachklingen. Propst Gregor Giele, der im Sommer als Reaktion auf die Austrittswelle mit einem Plakat Ausgetretene in die Gemeinde einlud, erzählt: „Jeder, den ich gefragt habe, ob er über seine Gründe sprechen will, hat sofort zugesagt.“ Trotzdem ist das Reden darüber nicht allen leicht gefallen. Gerlind Große bezeichnet es als „keine leichte Anfrage.“ Giele gibt zu bedenken: „Das sind alles Leute, die nach wie vor glauben. Das ist ein Potenzial. Denn sie suchen Orte, wo sie den Glauben auf ihre Art leben können.“ Deshalb wolle er weiter offen für sie sein und fügt hinzu: „Das Verknöcherte der Kirche, das treibt die Leute weg.“
Über den zweiten Abend, unter dem Motto „Ich bleibe, weil...“ wird der TAG DES HERRN in der kommenden Ausgabe berichten. Abschluss der Reihe ist am 26. Januar, wenn der Theologe Michael Seewald aus Münster zum Thema „Geht Kirche auch anders?“ spricht.
Von Ruth Weinhold-Hesse
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