Friedrich Nietzsche-Rezeption in der Kirche

Der Anti-Christ

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Er proklamierte in einem Werk, dass der Mensch Gott getötet habe und wetterte häufig gegen den christlichen Glauben. Trotz dieser Provokationen konnten bedeutende Christen Friedrich Nietzsche etwas Positives abgewinnen.

Nietzsches strenger Blick richtete sich häufig auf das ihm verhasste Christentum.    Foto: imago images / Thomas Müller

 

„Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die eine große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist – ich heiße es den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit.“ So äußerte sich Friedrich Nietzsche in seiner Schrift „Der Antichrist“, 1888 verfasst, wenige Monate, bevor er in geistige Umnachtung fiel, aus der er nicht mehr auftauchen sollte. Er starb vor 120 Jahren am 25. August 1900. Ein letztes Mal hatte er hier zum Schlag ausgeholt gegen das von ihm verabscheute Christentum. Es galt ihm als lebensfeindlich, verlogen und kleingeistig, hervorgegangen aus dem Ressentiment Benachteiligter und wie ein Großteil bisheriger Philosophie und Moralgebäude nicht mehr zeitgemäß. Im Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit dieser Aussage hatte Nietzsche 1882 in der „Fröhlichen Wissenschaft“ den „tollen Menschen“ ausrufen lassen: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!“
Es muss daher überraschen, dass sich christliche Denker auf Nietzsche bezogen und bei ihm Anregung fanden für einen Neuansatz christlicher Welt- und Lebensdeutung. Einer war Albert Schweitzer. 1903 schrieb er an seine spätere Frau Helene Bresslau: „Ich lese Nietzsche: ‚Jenseits von Gut und Böse‘ – diesen großen, schönen Aufruf zum Leben. Es ist merkwürdig: ich verstehe die Worte Jesu besser, seit ich dieses große Lachen höre, mit dem er sie ausgesprochen hat. Etwas von diesem Lachen ist in ‚Jenseits von Gut und Böse‘, diesem neuen Testament vom Stolz der menschlichen Natur, den man töten wollte. In Nietzsche war etwas von dem Geist Christi.“

Albert Schweitzer fand bei Friedrich Nietzsche nicht nur intellektuelle, sondern auch modische Inspiration.    Foto: imago images/Kharbine-Tapabor

Die Kraft des Einzelnen gegen die Masse
Schweitzer behauptet hier eine Verwandtschaft zwischen Nietzsche und Christus. Beide, so klingt es aus seinen Zeilen, seien Anwälte des Lebens und der menschlichen Natur. Das ist es, was ihn fesselte, seit er als Student der Theologie und Philosophie mit Nietzsches Schriften in Berührung gekommen war: das vitale Element, das Nietzsche dem Menschen und dem Leben zuschrieb. Es stand im Gegensatz zu einer Welt, die als erschlafft und flach empfunden wurde, mit wenig Anspruch, in der die Menschen drohten, gesichtslos in der Masse aufzugehen. Nietzsche hingegen trat für den Wert und die Kraft des Einzelnen ein. 1915, als er schon im Hospital in Afrika tätig war, hob Schweitzer dies in seiner Schrift „Wir Epigonen“ hervor: „Der Individualismus erkennt die Gefahr, die dem Einzelnen von der ihn absorbierenden Kollektivität droht. Das Große an Nietzsche ist, daß er die Zusammengehörigkeit von Sittlichkeit und Persönlichkeit in einer Zeit proklamierte, die jedes Bewusstsein davon verloren hatte.“
Diese Verbindung von Persönlichkeit und Ethik, behauptete Nietzsche, lasse sich nicht erlangen unter Bezug auf philosophische oder theologische Systeme. Das ethisch Richtige geschehe auch nicht nur aus rationalem Kalkül, aus Nützlichkeitserwägungen oder als Pflicht. Das sah Schweitzer ähnlich. Wie Nietzsche nahm er die Natur des Menschen zum Ausgangspunkt. Und die, auch hierin stimmten sie überein, ist durch den Willen bestimmt; verstanden als universales Phänomen der Lebendigkeit, das sich im Menschen als Wille zum Leben äußert. Darin lag für Nietzsche eine grundlegende Welt- und Lebensbejahung. Für ihn wie für Schweitzer war dies die Grundlage der Ethik. Ethik also nicht als Verzichtshaltung, als Rückzug aus der Welt, sondern als Lebensförderung und Welteinsatz. Ihr Ziel für Nietzsche wie für Schweitzer: die Verwirklichung der Natur des Menschen als Vollendung der individuellen Persönlichkeit. Soweit kamen sie überein, nicht aber in dem, was sie daraus folgerten. Nietzsche erstrebte die Intensivierung des Lebens auf der Basis des Willens zur Macht. Dabei steht dem Stärkeren als dem Lebensvolleren anderes Leben im Weg. Für Schweitzer hingegen gipfelt die Lebensbejahung in der Berücksichtigung des Lebenswillens aller übrigen Lebewesen. Die Persönlichkeit vollendet sich in der Förderung anderen Lebens. Das ist es, was er die „Ehrfurcht vor dem Leben“ nannte.

Von Über- und Untermenschen
Neben Albert Schweitzer ließ sich der Jesuit Alfred Delp von Nietzsche anregen. Auch er machte sich Gedanken über die Natur des Menschen. So in einer Predigt zum dritten Advent 1944, verfasst in der Haftanstalt Tegel, wo er von den Nationalsozialisten wegen seiner Mitarbeit im „Kreisauer Kreis“ gefangen gehalten wurde. Darin heißt es: „Es gehört zum Wesen des Menschen, über sich hinaus zu müssen, sonst wird er ein geistiger Bourgeois, dickblütig und stickig und schwerfällig und behäbig. Wer nur Mensch und sonst nichts sein möchte und nicht mehr von sich weiß, als die menschlichen Alltäglichkeiten und alltäglichen Menschlichkeiten, der vegetiert bald nur noch als Untermensch.“ Delp nimmt hier deutlich Bezug auf Nietzsches Übermensch. Er meint aber nicht dessen brutale Anmaßung, sondern eine Grundanlage des Menschen, die darin besteht, die begrenzte Bindung an das, was ihn gerade umgibt und angeht, zu überwinden. Auch, wenn es ihm nicht bewusst ist. Den Christen aber ist das Streben über sich hinaus aufgetragen. Sie sind gerichtet auf etwas, das sie und das gewöhnliche Leben übersteigt: auf die Ordnung, die Gott der Welt gibt und auf die Begegnung mit ihm. Diese zu ihnen gehörende und von ihnen geforderte Differenz bedeutet auch Freiheit und verlangt unter Umständen, für diese Freiheit einzustehen. Das tat Delp und wurde dafür am 2. Februar 1945 hingerichtet.
Vier Jahre zuvor hatte er in einer Betrachtung über das Buß-Sakrament Nietzsches Gedicht „Die Klage der Ariadne“ als Ausdruck der Qualen gedeutet, die dem Philosophen aus seinem Kampf gegen das Christentum erstanden waren. Und beinahe scheint es, als sei sich Nietzsche nicht restlos sicher gewesen, dass Gott tot ist, wenn er Ariadne, vom Gott Dionysos verlassen, flehen lässt: „Komm zurück! Mit allen deinen Martern! All meine Tränen laufen zu dir den Lauf und meine letzte Herzensflamme, dir glüht sie auf! Oh komm zurück, mein unbekannter Gott! mein Schmerz! mein letztes Glück!“
Was Delp und Schweitzer ohne Abstriche mit Nietzsche teilten, war dessen Kampf gegen ein verharmlostes, verbürgerlichtes Christentum. Sie hätten es wohl nicht so scharf formuliert, aber es könnte sie durchaus amüsiert haben, was Nietzsche über den Alltagschrist seiner Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts schrieb: „Wenn das Christentum mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte, der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen Verdammnis recht hätte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am eignen Heile zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen Vorteil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt, dass überhaupt geglaubt wird, so ist der Alltags-Christ eine erbärmliche Figur.“

Von Gunnar Lammert-Türk