Propst i.R. Gerhard Nachtweih erinnert an Oskar Brüsewitz

In der Tradition der Propheten …

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Am 18. August 1976 hat sich der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz in Zeitz aus Protest gegen das DDR-Regime selbst verbrannt. Die Propaganda versuchte ihn als Verrückten und Einzelgänger abzustempeln. Doch Brüsewitz war weder verrückt noch ein Einzelgänger, sagt einer, der mit ihm zusammengearbeitet hat, der langjährige Dessauer Propst Gerhard Nachtwei, damals Vikar in Zeitz.

Oskar Brüsewitz

Da schreibt jemand: „Oskar Brüsewitz hatte keine Freunde.“ Ich habe fünf Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Er hatte Freunde. Wir drei katholischen Priester von Zeitz Paul Schelenz, Joachim Weber und ich, Gerhard Nachtwei, gehörten dazu. Da schreibt jemand: „Ich habe in Zeitz nach Brüsewitz gefragt. Man hat mir geantwortet. Der war doch verrückt.“ Da schreibt jemand: „Im Krankenhaus Halle stand die Stasi vor der Tür und ließ nicht einmal die Familie zu ihm. Die letzten Gesichter, die er sah, waren die Gesichter der Stasi.“ Nein, der katholische Priester Weber war noch vor der Stasi bei ihm.

 
Was ändert diese Selbstverbrennung?
Am 18. August 1976 hat sich Oskar Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz mit Benzin übergossen und selbst verbrannt. Vier Tage später erlag er im Bezirkskrankenhaus Halle seinen schweren Verletzungen. Diese Tat hatte manchen aufgewühlt und auch viele Fragen aufgeworfen: „Darf man sich als Christ selbst das Leben nehmen?“ „Was ändert so eine Selbstverbrennung an den Verhältnissen in der DDR?“ Die staatliche Presse hatte ihn schnell als geisteskrank verunglimpft. Evangelische Kirchenvertreter fragten sich: „Haben wir ihn wirklich verstanden, ihm genug beigestanden?“
Einige Tage nach seiner Beerdigung war ich zu einem langen Gespräch bei Christa Brüsewitz in Rippicha, eine beeindruckende Frau an der Seite eines ungewöhnlichen Mannes. „Bruder Nachtwei, was meinen Sie, warum er das letztlich getan hat?“, fragte sie. Dann gab sie mir ein Buch zurück, das sich Oskar Brüsewitz von mir geborgt hatte: „Priester vor Hitlers Tribunalen“. Benedicta Maria Kempner dokumentiert darin Geschichten von katholischen und evangelischen Geistlichen, die in der Nazizeit Widerstand geleistet haben. Christa Brüsewitz: „In diesem Buch hat Oskar die letzte Zeit nur noch gelesen. Selbst als wir zum Baden waren, saß er auf der Decke mit Ihrem Buch in der Hand.“ Ich erinnere sie an etwas, was mir Oskar Brüsewitz oft gesagt hatte: „Bruder Nachtwei, die Menschen sind so abgestumpft. Sie reden anders als sie denken. Sie nehmen einfach hin, was man mit ihren Kindern in der Schule macht. Wir müssen mehr kämpfen. Nach dem Nazireich kam das kommunistische Reich. Wir müssen für das Reich Christi kämpfen. Für Christus müssen wir stürmen.“
Einem Freund hat er geschrieben, wie wohl er sich bei uns drei katholischen Zeitzer Priestern fühle, wie wir ihn in seinem Drang nach deutlicheren kirchlichen Zeichen und Worten gegenüber dem Druck des atheistischen Weltanschauungsstaates unterstützen, wenn wir auch nicht unkritisch waren gegenüber manchen seiner Aktionen und Aussagen. Viele Tage mit Kindern und Jugendlichen haben wir gemeinsam geplant und auf seinem Gelände durchgeführt. Katholische Familien aus Zeitz halfen ihm öfter, wenn er wieder etwas spontan geplant hatte. Die meisten Bilder, die es von Veranstaltungen in Rippicha gibt, sind von Katholiken fotografiert, auch zwei Schmalfilme, die Oskar Brüsewitz in Aktion zeigen und die in dem sehr authentischen Film „Der Störenfried“ verwendet wurden.
Durch das Buch, in dem er zuletzt nur noch gelesen hat, ist er mir besonders nah. Hat er eine Botschaft für uns heute? Christa Brüsewitz reagierte abweisend, wenn man ihren Mann für eigene Zwecke vereinnahmen wollte. Vor einiger Zeit ist sie gestorben. 
 
Antworten auf die Frage „Was ist normal?“
Für mich steht Oskar Brüsewitz in der Tradition der Propheten. Diese haben es nicht immer leicht und machen es auch ihrer Umgebung nicht immer leicht. Aber wehe, wenn sie fehlen. Viele Geschichten könnte ich erzählen. Auf die Frage: „Was ist normal?“ kann ich nur heute, wie damals antworten: „Wenn normal ist, zu tun, was alle tun, dann war Brüsewitz nicht normal? Aber wenn es nicht normal ist, seine Fahne immer nach dem Wind zu drehen und sich der jeweiligen Ideologie oder dem herrschenden Zeitgeist anzupassen?
Wir hatten viel Spaß in unserer gemeinsamen Arbeit. Als Oskar Brüsewitz sein Neonkreuz auf dem Kirchturm abbaute, weil ihm die Stasi das verbot wegen der Energieknappheit in der DDR, wunderte ich mich, dass er es später wieder angebaut hatte. „Bruder Nachtwei“, sagte er, „ich habe jetzt einen Weg gefunden, dass ich keinen Strom mehr brauche. Ich habe das Kreuz an Autobatterien angeschlossen.“ „Und Oskar, woher bekommen die Autobatterien den Strom?“ „Och“ sagte er, selbst überrascht, „das ist nicht einmal der Stasi aufgefallen.“
Nach einem großen ökumenischen Kindertag in Rippicha wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt. Wir katholischen Freunde waren wie er dagegen, diese zu bezahlen, weil wir keinen Grund dafür sahen. Als dann doch gezahlt wurde, haben wir in unserer katholischen Kirche eine Kollekte durchgeführt und den Sonntag danach vermeldet: „Die eingegangene Summe ist so hoch, dass wir noch etliche ‚verbotene‘ Veranstaltungen davon finanzieren können.“ Bei diesem ökumenischen Tag war übrigens die Stasi nebenan im Garten. Was sie nicht mitbekam: Unsere eigene Technik war defekt. Ein katholischer Jugendlicher, der den Betriebsfunk im Tagebau Profen technisch betreute, überredete mich, dass wir diesen Betriebsfunk übers Wochenende abbauen. Wenn er am Montag wieder an Ort und Stelle wäre, würde das keiner merken. Wir hatten somit eine Technik, mit der wir den ganzen Ort Rippicha beschallen konnten. Aber die sonst so allmächtige Stasi hatte das nicht mitbekommen. Und sie hatte auch nicht mitbekommen, dass bei der Beerdigung von Oskar Brüsewitz der katholische Jugendliche, der die kirchliche Verstärkeranlage aufgebaut hatte, heimlich ein Kabel zu Lothar Löwe von der ARD gelegt hatte, der nur aus der Entfernung filmen durfte. Heute erzählt der damalige Jugendliche mit Freude davon, dass er in der DDR mit der ARD zusammengearbeitet hat.
Die 1970 verstorbene jüdische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs sagt in einem Gedicht: „Wenn die Propheten einbrächen würden durch die Türen der Nacht und ein Ohr wie eine Heimat suchten – Ohr der Menschheit, du nesselverwachsenes, würdest du hören?“     
 
Von Gerhard Nachtwei