Sprachlernunterricht in den katholischen Schulen im Bistum
Deutsch hat seine Hürden
142 Jungen und Mädchen aus der Ukraine besuchen die katholischen Schulen im Bistum Hildesheim. Ganz oben auf dem Lehrplan steht das Erlernen der deutschen Sprache.
Auf dem Schulflur herrscht reger Betrieb, die Stimmung ist ausgelassen, die Mädchen und Jungen necken sich, laufen wild durcheinander, unterhalten sich in deutlich vernehmbarer Lautstärke. Eine alltägliche Pausenszene an deutschen Schulen. Was hier anders ist: Die Schülerinnen und Schüler stammen alle aus der Ukraine. Sie besuchen eine gemeinsame Sprachlernklasse der drei katholischen Hildesheimer Schulen: des Gymnasiums Mariano-Josephinum und der Oberschulen St. Augustinus und St. Albertus-Magnus.
Die Kinder haben ihr Päckchen zu tragen
Es geht fröhlich zu, doch: „Die Kinder und Jugendlichen haben alle ihr Päckchen zu tragen“, sagt Louisa Schrader. Sie hat Deutsch und Deutsch als Zweitsprache studiert und koordiniert die Arbeit der zwei Sprachlernklassen der drei Schulen. „Viele Kinder haben ihren Vater ein Jahr nicht mehr gesehen, mussten Freunde zurücklassen, fürchten um ihre Verwandten, die in der Heimat geblieben sind“, berichtet sie. Erst vor wenigen Wochen erhielt ein 17-jähriger Mitschüler einen Einberufungsbefehl und ist nun zurück in die Ukraine gegangen – ein Vorgang, der alle belastet.
„Der Krieg ist immer präsent, dominiert den Unterricht“, sagt Anna Böhmer, eine der zwei Lehrerinnen der Sprachlernklassen. Wenn es bei der Einübung der freien Rede und des Argumentierens um ein gegebenes Thema geht, kommen die Schüler oft auf die Lage in der Ukraine zu sprechen. Kürzlich ging es beispielsweise um die Frage, was die Jungen und Mädchen mit einem Lottogewinn anfangen würden. Statt Shoppingtouren oder Luxusreisen hatten sie ganz andere Dinge im Kopf. „Sie wollten das Geld spenden für Lebensmittel und medizinische Versorgung in der Ukraine – und für Waffen zur Verteidigung der Heimat“, erzählt Anna Böhmer. „Es ist wichtig, die Kinder aus dieser Fixierung herauszuholen, damit sie ihr Leben hier bewusst erschließen können und dafür Freiheit in Geborgenheit verspüren.“
Noch funktioniert der Kontakt mit der Heimat
Eine der Schülerinnen, die Anna Böhmer unterrichtet, ist die 13-jährige Anastasia. Sie kam im März letzten Jahres wie viele ihrer Mitschüler über persönliche Kontakte nach Deutschland.
Anastasia hat es gut getroffen. Zunächst kam sie mit ihrer Mutter bei einer Familie unter, fand „Gastgeschwister“, mittlerweile haben die beiden eine eigene Wohnung. „Wir sind sehr dankbar“, sagt sie. Dass es ihr vergleichsweise gutgeht, hat aber noch andere Gründe: Ihr fällt es leicht, Sprachen zu lernen, und sie hat ständigen Kontakt in die Ukraine. „Wir können mit meinen Großeltern in Kiew telefonieren, WhatsApp mit Freunden und Verwandten schreiben“, sagt sie. Das funktioniere alles noch reibungslos. Zurück kann sie vorerst nicht. Zwar ist die elterliche Wohnung noch vorhanden, aber ein Hausteil zerstört und damit der ganze Komplex unbewohnbar. Außerdem schlagen in ihrer Heimatstadt Charkiw immer wieder russische Raketen ein.
Anastasia ist sehr ehrgeizig. Wenn sie vom Sprachlernunterricht nach Hause kommt, setzt sie sich für drei Stunden an den Computer, um am Online-Unterricht ihrer ukrainischen Schule teilzunehmen. Sie bereitet sich auch auf den ukrainischen Schulabschluss vor, macht Hausaufgaben und schreibt digitale Tests. So wie sie machen es viele ihrer Mitschüler, es sind lange Tage. Aber nicht nur das: „Die Jungen und Mädchen leben zwischen zwei Welten, es ist ein paralleles Leben“, sagt Anna Böhmer.
Viele Schüler hatten anfangs keine Motivation, Deutsch zu lernen, denn sie planten, bald wieder in die Ukraine zurückzugehen. Sie haben gefragt: Wozu machen wir das alles? Verraten wir nicht unsere Heimat? „Doch sie nehmen mittlerweile die Situation an. Sie brauchen Deutsch für Arztbesuche, Einkaufen, Kontakt zu Mitschülern“, sagt die Lehrerin, „und vor allem, um baldmöglichst am Regelunterricht in den deutschen Klassen erfolgreich teilnehmen zu können“.
Als die Jungen und Mädchen in Hildesheim ankamen, nahmen sie zunächst am normalen Unterricht der beteiligten Schulen teil, in der Hoffnung, dass die Jugendlichen bald quasi nebenbei Deutsch lernen würden. „Doch die Hoffnung hat sich nicht erfüllt“, sagt Louisa Schrader. „Es war anfangs schwierig, weil wir keinen Plan für einen solchen Fall in der Schublade hatten, wir mussten uns erstmal zurechtruckeln“, berichtet sie.
Die drei Schulen entschieden sich schließlich, ihre Kräfte zu bündeln und am Standort Brühl des Mariano-Josephinums zwei Sprachlernklassen für die Jahrgangsstufen 5–8 und 8–10 einzurichten. Die werden heute von 40 Schülerinnen und Schülern besucht. Da geht es um Alltagssprache und Schriftsprache, aber auch um die Fachsprache von Unterrichtsfächern wie Mathe, Physik, Chemie, Bio, Geschichte, Erdkunde. Jüngere Schüler müssen zudem erst einmal das lateinische Alphabet lernen, denn in der Ukraine werden die kyrillischen Buchstaben verwandt.
Lehrerin stammt aus Kirgistan
„Deutsch hat seine Hürden“, sagt Anna Böhmer, „nehmen Sie zum Beispiel die Zahlen. Wenn es ums Zählen geht, sagen wir Tausendneunhundertzwölf, wenn wir das Jahr meinen, Neunzehnhundertzwölf. Das muss man Jugendlichen erstmal vermitteln, denn im Ukrainischen oder Russischen zählt man anders“.
Anna Böhmer ist vor 26 Jahren nach Deutschland gekommen. Sie hat in der ehemaligen Sowjetrepublik Kirgistan Deutsch und Englisch studiert, blieb nach einem Zweitstudium an der Uni Hildesheim in der Bundesrepublik. In den vergangenen Jahren hat sie sich vor allem ihren drei Kindern gewidmet und im Büro ihres Mannes mitgearbeitet. Von ihrer neuen Aufgabe ist sie ganz begeistert: „Jedes Kind ist ein Universum. Es ist eine lohnende und erfüllende Arbeit.“
Matthias Bode