Unterwegs mit Obdachlosen in Hamburg

„Die Armut nimmt immer mehr zu“

Image
Männer sitzen gemeinsam in der Wärmestube.
Nachweis

Foto: Matthias Schatz

Caption

Die Wärmestube für Obdachlose hinter dem Mariendom.

Hamburg gilt als Hauptstadt der Obdachlosen in Deutschland. Seit 2018 hat sich ihre Zahl dort auf rund 3800 fast verdoppelt. Die Caritas und andere katholische Einrichtungen helfen ihnen, insbesondere in der kalten Jahreszeit durch den Tag zu kommen.

Die Luft in Hamburg ist feucht, und die Temperaturen sind im einstelligen Bereich über Null an diesem Donnerstag im Januar. Auch wenn es nicht friert: „Solche Bedingungen können für Obdachlose tödlich sein“, sagt Chris. Schon wenn das Thermometer acht Grad anzeige, könnten Menschen „auf der Platte“, also draußen, erfrieren, sofern sie sich nicht durch einen Winterschlafsack vor der Kälte schützten. Chris spricht aus Erfahrung. Denn er war selbst sieben Jahre obdachlos. Heute hat der 53-Jährige eine eigene Wohnung im Stadtteil Wandsbek und einen Job: Er führt im Auftrag des Straßenmagazins Hinz & Kunzt Besuchergruppen zu „Hamburger Nebenschauplätzen“ – will sagen: zu jenen Orten, die abseits der Touristenmagneten von vielen Obdachlose aufgesucht werden. „Diese Menschen haben ein Programm, wo sie wann hingehen“, sagt Chris. Und viele hätten ein Smartphone, über das sie sich über die Öffnungszeiten der Einrichtungen informierten.

Das gilt auch für Barbara (Name geändert), die seit 24 Jahren obdachlos ist und Bürgergeld bezieht. In einem Rucksack trägt die 55-Jährige ihren gesamten Haushalt stets mit sich herum. Ihr morgendlicher Anlaufpunkt ist Caricare, der Tagestreff der Caritas an der Altstädter Twiete in Hamburgs Zentrum. Montags bis freitags öffnet er um 7 Uhr und schließt erst – nach einer zweistündigen Pause am Nachmittag – um 20.30 Uhr. Dort gibt es heiße Getränke, Computer, Schließfächer, Lademöglichkeiten für Mobiltelefone und eine Sozialberatung sowie eine Schwerpunktpraxis zur medizinischen Versorgung Obdachloser. Und es gibt eine Küche, in der Bedürftige selbst kochen können, sich also auch in Selbstständigkeit üben. „Damit die Küche nicht zu voll wird, dürfen nicht mehr als drei Leute zeitgleich dort Mahlzeiten zubereiten“, sagt Caritas-Sprecher Timo Spiewak. So würden Zeitfenster pro Person vergeben. „Daher wird oft für mehrere Personen gekocht.“

Der ehemalige Obdachlose Chris mit seinem Hund Struppi vor der Zentralbibliothek nahe des Hamburger Hauptbahnhofs: Viele Obdachlose haben Tiere als Begleiter. Sie sind ihnen treue Freunde, geben ihrem Leben Halt und ihrem Tagesablauf Struktur. Einige Tagestreffs und Übernachtungseinrichtungen wie das vom Roten Kreuz betriebene Harburg-Huus in Hamburg, bieten auch eine Versorgung der Vierbeiner. Foto: Matthias Schatz

Chris geht auf seinen Touren auch bei Caricare vorbei, bleibt aber mit Rücksicht auf die Anwohner ein bisschen auf Distanz zum Tagestreff. Sein morgendlicher Anlaufpunkt war für ihn schon in der Zeit als Obdachloser Hinz & Kunzt. Heute ist das Magazin, das Obdach- und Wohnungslose in ganz Hamburg verkaufen und das von professionellen Journalisten gemacht wird, im Hamburger Stadtteil St. Georg unweit des Generalvikariats in der Minenstraße zuhause. Im Erdgeschoss gibt es ab 9.30 Uhr Kaffee, etwas zum Frühstücken und ebenfalls eine Sozialberatung. „Die Armut nimmt immer mehr zu“, sagt er und verweist auf die offizielle Zahl Obdachloser in Hamburg für 2024: 3787, fast doppelt so viele wie 2018. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen vermutet Timo Spiewak, Sprecher der Caritas Hamburg.

Eine weitere morgendliche Anlaufstation, die Barbara zuweilen aufsucht, bietet die „Alimaus“ im weiter westlich gelegenen Stadtteil Altona am Nobistor 42. Die Tagestätte für Bedürftige entstand auf Initiative von Gabriele Scheel, langjährige Gemeindereferentin von St. Ansgar im Hamburger Stadtteil Niendorf und wird vom „Hilfsverein St. Ansgar“ getragen. Von Montag bis Samstag wird ab 10 Uhr in einem finnischen Blockhaus rund 60 Personen ein Frühstück geboten. Und von 13 bis 15 Uhr gibt es dort eine warme Mahlzeit.

Angegliedert an die „Alimaus“ sind die Kleiderkammer „Don Alfonso“ und „Nobis bene“, wo montags bis freitags von 10 bis 12 Uhr sanitäre Hilfe geboten wird. Dienstags versorgen dort zudem von 14 bis 16 Uhr zwei Ärzte ehrenamtlich Wohnungs- und Obdachlose. „Unsere Kleiderkammer hat einen guten Bestand“, freut sich Janet van Rossem, die sich ehrenamtlich bei der „Alimaus“ engagiert und zudem stellvertretende Vorsitzende des Freundeskreises für den Hilfsverein ist, der um Spenden für die Tagesstätte wirbt. „Viele Kleiderkammern sind leergefegt“, berichtet Chris. Dass dies bei „Don Alfonso“ momentan nicht der Fall ist, liegt auch am Fußball-Bundesligisten FC St. Pauli, dessen Stadion in der Nachbarschaft am Millerntor liegt. Erst jüngst hatte der Verein seine 420 000 Follower auf Instagram dazu aufgerufen, vor dem Bundesliga-Spiel gegen Union Berlin Kleider unter anderem für „Don Alfonso“ bei ihm abzugeben. Vor allem viele Isomatten, Schlaf- und Rucksäcke kamen so in die Kleiderkammer.

„Die Alimaus hat einen sehr guten Ruf unter den Bedürftigen“, berichtet Chris. Vor ein paar Jahren nahm er auch an einer Wallfahrt nach Rom teil, und zwar zusammen mit Pater Karl Meyer, der bis 2022 mehr als 20 Jahre Vorsitzender des Hilfsvereins St. Ansgar war und heute noch bei der Alimaus sehr engagiert ist. „Pater Karl ist super, der ist wirklich mit Herz bei der Sache“, schwärmt Chris. Er selbst sei in einem Heim von katholischen Nonnen aufgewachsen, da seine Eltern Alkoholiker gewesen seien. Auf der Straße sei er gelandet, weil ihn die Nonnen nicht mehr unterstützt hätten, nachdem er aus Prüfungsangst eine Lehre als Dachdecker abgebrochen habe. So sei er selbst zum Alkoholiker geworden habe keine Arbeit, kein Einkommen gehabt.

Brennpunkt Hauptbahnhof

„Leute, die nahe der Reeperbahn auf der Platte leben, gehen auch ins Haus Betlehem“, berichtet Chris weiter. Es liegt an der Budapester Straße und bietet ebenfalls täglich ein Frühstück und an Sonn- und Feiertagen ein warmes Mittagessen. Es wird von fünf Schwestern der Mutter Teresa betrieben. Dort gibt es ebenfalls eine Kleiderkammer, Duschmöglichkeiten und regelmäßig eine medizinische Versorgung.

Die Tour mit Chris führt recht bald in die Umgegend des Hamburger Hauptbahnhofs. Ein restriktiveres Vorgehen der Polizei hat dazu geführt, dass die Zahl bettelnder Obdachloser direkt an der Station spürbar zurückgegangen ist. Auch in den U- und S-Bahnen Hamburgs, die Obdachlose ebenfalls gerne nutzen, um sich winters aufzuwärmen, ist das Betteln nun verboten. Dafür fänden sich mehr von ihnen im weiteren Umfeld des Hauptbahnhofs berichtet Chris. So etwa auf dem Grünstreifen neben der Adenauerallee. Dorthin zögen sich viele Drogensüchtige zurück. Überhaupt seien Drogen auch ein Problem unter Obdachlosen. Suchtprobleme führten außerdem dazu, dass sie ihr „Tagesprogramm“ nicht hinbekämen.

Im Münzviertel neben dem Hauptbahnhof ist mit dem „Herz As“ eine weitere Tagesstätte für Obdachlose, wo sie sich eine warme Mahlzeit zubereiten und duschen können. Sie wurde 1981 durch die Bahnhofsmission und alle evangelischen Hauptkirchen Hamburgs initiiert. „Heute morgen standen hier 150 Menschen Schlange“, erzählt Chris. Vor der Tür stehen zwei Männer, die sehen, dass sich Chris gerade eine Zigarette dreht. „Hast Du Tabak für mich“, fragt einer der Männer mit osteuropäischem Akzent. Chris drückt ihm im Vorbeigehen ein Zigarettenpapier samt Tabak in die Hand.

Direkt am Hauptbahnhof hat die Bahnhofsmission vor knapp zwei Jahren ein neues Gebäude bezogen. neben einer warmen Stube, Heißgetränken und sanitären Einrichtungen gibt es dort vor allem für ältere und verletzte Menschen eine Notpflege, die der katholische Malteser- und der evangelische Johanniterorden vorangetrieben haben. Das Team kümmert sich bei Bedarf auch um die Weitervermittlung an die Caritas-Krankenstube für Obdachlose auf St. Pauli, das Kranken- und das Zahnmobil der Caritas oder Schwerpunktpraxen zur medizinischen Versorgung.

Neigt sich der Tag dem Ende zu, gibt es seit ein paar Monaten eine Anlaufstelle am St. Marien-Dom in St. Georg. Diakon Henry Kirsche, der auch ein paar Container für Obdachlose auf dem Gelände der nun geschlossenen katholischen Schule im Stadtteil Ottensen organisiert hat, hat in einem Raum der ehemaligen Domschule eine Wärmestube für Obdachlose eingerichtet. Sie ist täglich von 14 bis 22 Uhr geöffnet und wird von ehemaligen Obdachlosen geführt. Dort gibt es neben leiblicher eben auch geistige Nahrung, Seelsorge. Bei Tomatensuppe oder belegten Broten kann in der Bibel aber auch in Romanen John Grishams oder Nicholas Evans’ gelesen werden. Und man unterhält sich, beispielsweise in bequemen pinkfarbenen Sofas, die einst an Deck des Touristenschiffs „Aida“ standen. Überdies können für wenig Geld Schlafsäcke und Isomatten erworben werden, die Mitarbeiter systematisch über die Obdachlosenhilfe „Zwischenstopp“ am Zentralen Busbahnhof Hamburgs organisieren.

Dorthin hat es schon am Nachmittag auch Barbara gezogen., „weil es hier tagsüber ruhiger ist als rund um den Hauptbahnhof“. Insgesamt sei die Versorgung mit Lebensmitteln für Obdachlose in Hamburg gut. Daher kämen auch viele von ihnen in die Hansestadt. Chris meint, „in der Großstadt gibt es ein größeres soziales Netz und viele Stiftungen, daher auch eine bessere Chance, wieder an Wohnraum zu kommen. Zudem seien Obdachlose in einer Großstadt weniger sichtbar.

Auch Barbara verschwindet bald in der Dunkelheit zu ihrer Schlafstätte, die sie aber nicht verraten möchte. Übernachtungsmöglichkeiten im Rahmen des Winternotprogramms der Hansestadt Hamburg nehme sie nicht an, weil sie dort oft Streitereien erlebt habe. „Ja, ich kann“, sagt sie stolz – ohne es zu romantisieren nimmt sie das harte Leben auf der Straße geradezu sportlich, hat natürlich einen Winterschlafsack dabei. Sie ist übrigens schon von Hamburg nach Santiago de Compostela zu Fuß gepilgert und hat dabei stets draußen übernachtet.

Matthias Schatz