Telefon- und Notfallseelsorge in Berlin und Brandenburg

Die Drähte glühen

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Die Telefon- und Notfallseelsorge in Berlin und Brandenburg hat in diesen Wochen viel zu tun – Corona ist noch nicht vorbei, hinzu kommt Russlands Krieg in der Ukraine. Und das Bedürfnis nach Hilfe ist groß.

Die Seelsorge am Telefon ist ein wichtiger Dienst.

 

Bei Cathrin Clift und ihren ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen stehen in diesen Tagen die Telefone selten still. Bei ihnen rufen Menschen an, die Rat und Hilfe benötigen, die Zuspruch und Ermutigung suchen. Deswegen melden sie sich bei der ökumenischen Telefonseelsorge in Berlin und Brandenburg – und aktuelle Anlässe gibt es dafür wahrlich genug. 2020 hat die Telefonseelsorge ein Corona-Seelsorgetelefon ins Leben gerufen, weil viele Menschen nicht nur Angst vor Covid-19 haben, sondern auch vor den Begleiterscheinungen: Isolation, Einsamkeit, Verlust sozialer Kontakte. Und die aktuell hohen Ansteckungszahlen lassen die Telefondrähte weiterhin glühen.

Ein Viertel haben Angst vor Krieg
Seit Ende Februar treibt die Menschen eine weitere große Sorge um: Der Krieg in der Ukraine, mitten in Europa und nur wenige hundert Kilometer von Berlin entfernt, verunsichert viele Anrufer. Sogar am Corona-Seelsorgetelefon würden mittlerweile rund ein Viertel der Anrufer über ihre Kriegsängste sprechen, sagt Cathrin Clift. Die ausgebildete Notfallseelsorgerin engagiert sich seit 20 Jahren in der Telefonseelsorge, koordiniert seit Beginn der Pandemie das Corona-Telefon. Viele ältere Anruferinnen und Anrufer bewegten die Nachrichten aus der Ukraine besonders, erzählt sie von ihren Eindrücken. Die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg lebten bei ihnen jetzt wieder auf, die Bilder von zerbombten Straßen und Häusern „triggern sie“, berichtet die Seelsorgerin.
Doch die  Telefonseelsorge muss sich auch mit zwischenmenschlichen Problemen der Anrufer auseinandersetzen. Gerade im Osten Deutschlands leben viele Bürger, die zu DDR-Zeiten mit einer mehr oder weniger verordneten deutsch-sowjetischen Freundschaft aufgewachsen sind – auch Cathrin Clift hat diese „Ost-Sozialisierung“, wie sie im Gespräch erzählt. „Da hören wir viel Enttäuschung über Russland“, so die Seelsorgerin. „Häufig gab es das Vertrauen, die Russen würden schon nichts machen.“ Und viele Anrufer seien unsicher, wie sie nun mit ihren russischen Freunden umgehen sollten. Die könnten ja persönlich nichts für Putins Krieg – und doch seien sie oft durch die Propaganda russischer Medien stark beeinflusst. Auch die Rolle Deutschlands in diesem Krieg treibt offenbar viele Menschen um. Die Bedrohung sei für viele nicht konkret greifbar, die Ohnmacht der Politik übertrage sich auf die Menschen. Viele fragten, warum wir uns einmischen sollten, verweisen oft auf die besonderen Beziehungen zu Russland durch den Zweiten Weltkrieg. Andere hätten auch Angst vor Versorgungsengpässen, dass plötzlich die Heizung wegen ausbleibender Gaslieferungen kalt bleibt oder der Sprit immer teurer wird, so Cathrin Clift.
Doch nicht nur deutsche Anrufer suchen in diesen Wochen Rat und Hilfe. Die Diakonie in Berlin und Brandenburg betreibt auch eine russischsprachige Seelsorge-Hotline, das „Telefon Doweria“, zu Deutsch „Vertrauen“. Auch hier herrscht seit Kriegsausbruch Hochkonjunktur. Nicht nur Russen, auch viele geflohene Ukrainer melden sich hier, suchen Unterkünfte oder Schulen für die Kinder, fragen nach Informationen zur Registrierung als Flüchtlinge.

Unglaubliche Bereitschaft
Für Cathrin Clift und ihre Mitstreiter kommt eine weitere Belastung hinzu. Ihre Beratung ist Teil der Notfallseelsorge – und die kümmert sich um die Flüchtlinge in den Berliner Aufnahmezentren und um die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die die Ankommenden versorgen. „Es gibt eine unglaubliche Bereitschaft der Leute, schnell zu helfen“, sagt Clift. „Eigentlich sollen die Träger das sortieren und abfangen, aber sie sind immer einen Schritt hinterher.“ Die ersten Wochen nach dem russischen Überfall waren von Improvisation geprägt, erst jetzt habe sich eine Struktur herausgebildet. Zu dritt ist die Notfallseelsorge am Hauptbahnhof tätig, wo viele Flüchtlinge ankommen. „Das ist ganz schön belastend, wenn man die Geschichten hört – und es ist nochmal etwas anderes, Leute von so nah aufzunehmen“, erzählt Cathrin Clift. Das mache sich zunehmend bemerkbar: „Wir merken, dass uns die Ehrenamtlichen wegbrechen, nach mehreren Wochen sind sie sehr belastet.“ Mittlerweile hat sich die Situation gebessert, wie sie betont. Viele Träger wie die Malteser hätten Entlastungsangebote für die Helfer.
Die wachsende Überforderung vieler Engagierter spüre sie aber auch am Seelsorgetelefon, sagt Cathrin Clift – zum Beispiel bei Menschen, die Flüchtlinge in ihren Wohnungen aufgenommen haben. Manche merken erst jetzt, dass sie sich dabei einiges zugemutet haben, stellt die Seelsorgerin fest: „Das sind Menschen, die belastet sind, mit einem Ohr in der Heimat. Das sind keine leichten Gäste.“ Viele Anrufer seien froh, wenn sie über diese Probleme am Telefon sprechen könnten. Einerseits hätten sie Mitleid mit den Flüchtlingen, andererseits wollten sie die Menschen nicht dauerhaft beherbergen – ein Gewissenskonflikt, der für viele nicht leicht auszuhalten ist.
Die Berliner Notfallseelsorge wird auf die wachsende Belastung der Flüchtlingshelfer mit einem weiteren Angebot reagieren: Eine „Volunteer-Hotline“ geht an den Start. „Wir wollen verhindern, dass die Leute dekompensieren (Nervenzusammenbruch). Unsere Seelsorger berichten, dass die Helfer über ihre Grenzen hinaus manchmal zwölf bis 15 Stunden am Hauptbahnhof tätig sind und gar nicht mehr nach Hause kommen – weil sie das Gefühl haben, wenn ich jetzt nicht hier bin, dann passiert hier nichts.“ Auch die Träger hätten nur begrenzte Ressourcen, doch jetzt müsse eine Struktur nachrücken, die die Leute auffange.
Nicht zuletzt gilt das auch für die Seelsorgerinnen und Seelsorger selbst, die am Telefon oder im Einsatz in den Ankunftszentren Ansprechpartner für alle sind, die das Gespräch suchen. Auch sie sind extrem belastet von dem, was sie gehört oder gesehen haben. Für sie hat die Koordinatorin einige Tipps – zum Beispiel, sich auf Sachen zu konzentrieren, die „safe“ sind, zum Beispiel dass wir hier derzeit sicher leben. Wichtig sei der gegenseitige Austausch unter den Seelsorgern – und die wöchentliche Möglichkeit zur Supervision, also eine Beratung mit persönlicher Reflexion.

Von Oliver Gierens