Über 6000 Erdbücher in der Eine-Welt-Kirche in Schneverdingen
Die ganze Welt am Altar
Gelb schimmernd, rötlich-braun, tief dunkel oder leuchtend hell. Unter der Oberfläche ist die Erde so abwechslungsreich wie die Welt. Das zeigt die Eine-Welt-Kirche in Schneverdingen mir vielen tausend Bodenproben von allen Kontinenten.
Welcher Ausdruck wäre passend? Eine Schatzkiste aller Kontinente? Eine Reise in viele Millionen Jahre Erdgeschichte? Ein riesiges Buch der Hoffnungen, der Träume und des Glauben? In gewisser Weise passt alles zu diesem Altar in der Eine-Welt-Kirche in Schneverdingen. Fast 6000 Bodenproben sind in dem sakralen Kunstwerk versammelt, und es kommen noch immer neue hinzu.
Greifen wir auf gut Glück ins Regal und ziehen eine der Acrylhüllen, Bücher genannt, heraus. Besucher sollten das tunlichst unterlassen, aber in diesem Fall drücken Pastor Kai-Uwe Scholz und Markus Konermann vom Kirchenvorstand ein Auge zu. Leicht gelblich ist die Farbe dieser Erde, sie stammt aus der Provinz Chocé, dem Tiefland Kolumbiens. Lächerliche 20 Millionen Jahre alt ist dieser südamerikanische Gebirgszug, und trotzdem hat er eine spannende Geschichte zu erzählen: Schon in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, nach Christi Geburt also, gewannen die Ureinwohner als weltweit erste und lange einzige wertvolles Platin aus den Ablagerungen.
„Damit die Menschen nicht in Vergessenheit geraten“
Von Kolumbien nach China ist es nur ein halber Regalmeter. Das Erdbuch, ähnlich einer CD-Hülle, enthält Erde vom Tiananmen-Platz in Peking, wo vor 31 Jahren die Proteste der Studenten blutig niedergeschlagen wurden. Einmal bücken und wir sind in der näheren Umgebung von Schneverdingen: Feine, dunkelbraune Erdkrumen erzählen von einem schweren Unglück, sie stammen von der Stelle, wo am 3. Juni 1998 der ICE „Wilhelm Konrad Röntgen“ an einem Brückenpfeiler zerschellte. 101 Menschen starben, mehr als hundert Reisende wurden schwer verletzt, ganze Familien zerstört. „Damit diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten, möchte ich, dass diese Erde im Eine-Erde-Altar an sie erinnert“, steht in der erläuternden Notiz.
Schauplätze der Geschichte, die Vielfalt der Welt, Erinnerungen – all das ist heute in diesem einem Triptychon ähnlichen, riesigen dreiflügeligen Altar der Hamburger Künstlerin Marianne Greve versammelt. Ohne jede Hierarchie stehen die Bücher in den Regalen.
Die Eine-Welt-Kirche in der südlichen Lüneburger Heide ist schon eine ganz besondere Hausnummer. Alles an ihr ist – wenn auch auf unterschiedliche Weise – bemerkenswert. Als sie vor 20 Jahren als Projekt für die Hannover-EXPO 2000 gebaut wurde, verbauten die Zimmerleute nur Holz aus heimischen Forsten. Und das alles in einer genialen Weise, kein Baum wurde dafür gefällt: „Verwendet wurde sogenanntes Bruchholz“, erläutert Markus Konermann. „Die dicken Balken bestehen aus vielen kleinen Brettern.“ Brettstapeltechnik nennen Fachleute das. Viel Licht lassen die großen Fenster und die Dachkuppel in den sakralen Raum. Das gesamte Konzept ist im Sinne des Wortes wegweisend – dass auch noch der Pilgerweg nach Santiago de Compostela über das Kirchengrundstück führt, ist da nur ein i-Tüpfelchen.
Nach den ereignisreichen Wochen der EXPO drohte die Eine-Welt-Kirche mit ihrem symbolträchtigen Altar eher aus dem Blick zu geraten. Doch inzwischen hat die Gemeinde erkannt, mit welchem Schatz sie wuchern kann. Auch wenn Pastor Kai-Uwe Scholz erst seit einigen Monaten vor Ort ist, hat er beobachtet: „Ein Ruck ist durch unsere Markusgemeinde gegangen, es entwickeln sich viele Ideen und Aktionen.“ Inzwischen werden rund 8000 Besucher auch aus der weiteren Umgebung im Jahr gezählt. Ehrenamtliche führen durch die Kirche, organisieren Konzerte und Lesungen, sorgen für verlässliche Öffnungszeiten.
„Wir haben eine ganz besondere Verantwortung“
„Mit unserem Altar haben wir eine besondere Verantwortung“, sagt Pastor Scholz. „Er ist im Sinne der Künstlerin ein Altar für die ganze Welt und entwickelt sich permanent weiter.“ Noch ist Platz für rund 1000 Erdbücher. Immer wieder erreichen Päckchen das Pfarrhaus, alle mit genauen Ortsangaben, manche mit einer persönlichen Geschichten. Wie die vom Friedhof Fallingbostel. „Unsere Tochter Nicole ist mit 26 Jahren an Krebs gestorben und dort beerdigt. In einem Gebet hat sie geschrieben: Ich weiß, dass Gott ist, wo ich bin. So bin ich nie allein.“
Auch symbolisch ist Nicole nicht allein: Die Erde des Friedhofs aus Fallingbostel ist vereint mit der Erde der ganzen Welt. Beigesteuert von Menschen aus der Nachbarschaft und vom Dalai Lama bei einem Besuch vor ein paar Jahren persönlich nach Schneverdingen gebracht.
Stefan Branahl