Interview
Die Grenze nicht überschreiten
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Wenn Eltern alt werden, beginnt für ihre erwachsenen Kinder eine schwierige Zeit. Sie machen sich Sorgen, ob die Eltern noch in den eigenen vier Wänden zurechtkommen, und möchten sich einmischen. Sie wollen verhindern, dass Vater oder Mutter etwas zustößt. Christoph Girlich, Leiter der Caritas-Altenhilfe Berlin und Einrichtungsleiter in einem Berliner Seniorenheim, kann die Angehörigen verstehen. Er warnt aber auch vor einer Bevormundung von alten Menschen.
Herr Girlich, beginnen wir mit einem Beispiel: Ich bin bei meiner Mutter zu Besuch und merke, dass es dort nicht mehr so sauber ist wie früher. Soll ich etwas unternehmen?
Zunächst muss ich klar sagen: Dass sich bei den Menschen im Alter zu Hause einiges ändert, ist per se nicht bedenklich. War der Haushalt immer sehr sauber und stand das Mittagessen immer pünktlich um 12 Uhr auf dem Tisch, heißt das nicht, dass das so bleiben muss. Kinder neigen aber dazu, sich schon bei relativ kleinen Veränderungen Sorgen zu machen; sie stellen sehr schnell infrage, ob die Eltern noch alleine zurechtkommen. Gerade was die Sauberkeit im Haushalt oder die Mahlzeiten angeht, gibt es aber eine große Bandbreite dessen, was in Ordnung ist.
Was also tun?
Ich empfehle in fraglichen Fällen immer, eine externe Stelle – etwa eine Pflegeeinrichtung oder einen Arzt – aufzusuchen oder vorbeikommen zu lassen. Er kann die Situation professionell einordnen.
Wenn man das seinen Eltern vorschlägt, ist der Streit oft vorprogrammiert ...
Solche Themen führen bei alten Menschen in der Tat schnell zu einer Abwehrhaltung, denn natürlich haben sie Angst vor dem Verlust ihrer Unabhängigkeit. Deshalb ist es besonders wichtig, liebevoll mit ihnen zu sprechen. Man sollte sich bei solchen Gesprächen unbedingt bewusstmachen, dass man für seine Eltern immer das Kind bleibt.
Ich erlebe indes immer wieder, dass Angehörige mit ihren Eltern umgehen, als wären diese ihre eigenen Kinder. Und sie wollen Dinge über den Kopf der Betroffenen hinweg entscheiden. Da ist die Grenze zur Bevormundung überschritten, und das ist sicher nicht der richtige Weg. Solange keine Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt, muss man den Eltern zugestehen, dass sie Angebote ablehnen und sich anders entscheiden, als man selbst es tun würde.
Wenn mir das, was die Eltern vorhaben, aber gefährlich erscheint – was kann ich dann unternehmen?
Ich habe schon viele Gespräche geführt, in denen Angehörige der Meinung waren, sie müssten dem alten Menschen etwas verbieten: eine größere Reise beispielsweise, weil sie zu anstrengend sein könnte, oder die Anschaffung eines elektrischen Rollstuhls, weil der Umgang damit vielleicht zu schwierig ist. Ich verstehe, dass sich die Angehörigen Sorgen machen. Solange aber keine Erkrankung wie etwa eine Demenz vorliegt, kann ein alter Mensch – wie jeder andere auch – selbst entscheiden, wofür er sein Geld ausgibt.
Sollte man dann lieber an die Vernunft der alten Menschen appellieren?
Die meisten sind gar nicht so uneinsichtig. Zumindest habe ich diese Erfahrung bei sehr vielen Gesprächen gemacht. Die Leute müssen aber mitgenommen und auf einen Weg geführt werden, den sie akzeptieren können. Wir spüren von den Angehörigen allerdings oft sehr viel Druck; die besorgten Angehörigen wollen möglichst viel auf einmal verändern. Dabei wäre es wichtig, zunächst nur ein konkretes Thema anzusprechen und den alten Menschen niederschwellige Angebote zu machen.
Wie könnte solch ein niederschwelliges Angebot aussehen?
Man könnte zum Beispiel vorschlagen, dass der Pflegedienst morgens vorbeikommt, um die benötigten Medikamente zu verabreichen. Die meisten Menschen sehen ein, dass die Tabletten nicht verwechselt oder vergessen werden dürfen, und dass nicht jedes Mal die eigene Tochter oder der Sohn vorbeikommen kann. Der Pflegedienst ist wahrscheinlich nur fünf Minuten im Haus; dadurch kann sich aber ein Vertrauensverhältnis entwickeln, auf dem man später – wenn mehr Hilfsbedarf besteht – aufbauen kann.
Ein heikles Thema ist das Autofahren ...
In der Tat. Denn da geht es für die alten Menschen um Selbstständigkeit, um Mobilität, und um die Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu bleiben. Wer will sich das schon nehmen lassen? Solange es hier keine neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen gibt – etwa in Form gewisser Nachkontrollen – hat man als Angehöriger nur sehr begrenzte Möglichkeiten.
Man muss auch bedenken, dass viele alte Menschen keine echte Alternative zum Autofahren haben, wenn sie Arztbesuche oder Besorgungen erledigen wollen. Würden Bekannte sagen, ich kann dich einmal pro Woche in meinem Auto mitnehmen, sähe das oft anders aus. Man sollte also unbedingt gemeinsam überlegen, ob es nicht jemanden gibt, der unterstützend tätig werden kann.
Wer käme dafür infrage?
Liegt bei dem alten Menschen eine Schwerbehinderung vor, kann es sein, dass die Krankenkasse unter bestimmten Bedingungen auch Taxifahrten bezahlt. Hier sollte man sich genau informieren. Ich habe auch schon erlebt, dass alte Leute von ihrer Nachbarschaft sehr nett mit betreut werden. Jeden Tag ruft jemand an, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist, und bietet an, beim Einkaufen etwas mitzubringen.
Wenn das nicht der Fall und fremde Hilfe nötig ist: Kann ich mir jemanden zum Verbündeten machen, um meine Eltern von einem Hilfsangebot zu überzeugen? Den Hausarzt zum Beispiel?
Die Einbindung vom Hausarzt ist grundsätzlich möglich, wenn es mit einer gewissen Sensibilität vonstattengeht. Er unterliegt ohnehin der Schweigepflicht und hat als Außenstehender oft eine gewisse Autorität. Die vertraulichen Informationen der Kinder können für den Arzt überdies bei der Behandlung hilfreich sein. Ich hätte kein schlechtes Gewissen, wenn ich versuchen würde, mit dem Hausarzt gemeinsam in eine bestimmte Richtung zu arbeiten. Schließlich ist das Ziel ja ein gutes, nämlich eine Verbesserung der Lebenssituation für meine Eltern.
Können Sie noch einen grundsätzlichen Rat geben?
Egal, welches Hilfsangebot man einem Angehörigen vorschlagen möchte – eine Haushaltshilfe, Essen auf Rädern oder den regelmäßigen Besuch eines ambulanten Pflegedienstes: Man sollte auf keinen Fall unvorbereitet in dieses Gespräch gehen, und man sollte nur ein einziges konkretes Thema ansprechen. Wenn man das erste Mal darüber spricht, kann man sicher keinen großen Wurf erwarten, sondern muss sich über kleine Zusagen freuen. Da bei den meisten Menschen das Älterwerden und der steigende Hilfsbedarf ein längerer, schleichender Prozess sind, ist es ohnehin sinnvoll, die Hilfe in kleinen Schritten aufzubauen. Das kann auch von den alten Menschen leichter akzeptiert werden.
Interview: Jutta Simone Thiel