Diskussion im Rahmen der MISEREOR-Fastenaktion

Die Lücke zwischen Theorie und Praxis

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Was sind die Voraussetzungen für eine weltweit gerechte Landwirtschaft? Welche Rolle spielen dabei internationale Konzerne, Regierungen und die Verbraucher? Darum ging es bei einer Diskussion im Rahmen der MISEREOR-Fastenaktion im Jakobushaus Goslar, die im Internet übertragen wurde.


Bolivianische Kleinbauern bei der Ernte. Die Idylle trügt,
mittlerweile bestimmen Konzerne die Produktionsbedingungen.

Eigentlich könnte man ja alles wissen. Zum Beispiel, dass ein paar wenige internationale Konzerne mittlerweile den weltweiten Saatgut-Markt diktieren. Dass riesige Flächen unter anderem in Bolivien gerodet werden, um genmanipuliertes Soja anzubauen, damit die Fleischtöpfe der Reichen immer billig gefüllt sind. Dass dies alles nicht nur katastrophale Konsequenzen für die Umwelt hat, sondern die Armen immer ärmer macht und ihre Lebensgrundlagen zerstört. Selbstverständlich sind die Verbraucher bereit, alles zu tun, um das zu ändern. Wenn es sie denn nichts kostet, hat man den Eindruck. Erst kürzlich senkte ein Discounter die Preise für Schnitzel und Grillwurst wieder, weil die Kunden zur billigeren Konkurrenz abwanderten.

Vor diesem Hintergrund für eine weltweite Solidarität zu werben heißt dicke Bretter bohren. Das katholische Hilfswerk MISEREOR macht das mit einer bereits jahrzehntelangen Hartnäckigkeit. Macht Vorschläge, legt den Finger in die Wunde und verweist auf die Konsequenzen von Ungerechtigkeit, Ausbeutung und  mangelnden Willen, den Lebensstil zu ändern. Dafür gibt es gern Kopfnicken und Beifall, in aller Regel vor allem dann, wenn Forderungen an andere gestellt werden.

„Es klafft eine riesige Lücke zwischen Theorie und Praxis“, brachte es der bolivianische Agrar- und Umweltwissenschaftler Gonzalo Colque auf den Punkt. Ein wirklicher Gesinnungswandel scheine in weite Ferne gerückt. Die Agrarindustrie vertreibe nicht nur in seiner Heimat, sondern überall auf der Welt die Armen, gehe rücksichtslos gegen Mensch und Umwelt vor. Es herrsche ein enormes Ungleichgewicht, der Macht der Konzerne hätten selbst viele Regierungen kaum noch etwas entgegenzusetzen. „Wie sollen es da die kleinen Landwirte schaffen? Selbst, wenn sie sich organisieren, haben sie keinen Einfluss. Wenn wir mit an den Verhandlungstisch wollen, werden wir ausgelacht“, beschreibt Colque die Realität, der sich nicht nur der bolivianische Landbevölkerung ausgesetzt sieht. Die beschönigende Terminologie des Großkapitals, dass es zur Agro-Landwirtschaft keine Alternative gebe, mache vor allem eins deutlich: „Macht und Einfluss sind ungerecht verteilt.“

„Die Erde ist zum Spekulationsobjekt geworden“, pflichtete ihm MISEREOR-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel bei. „Dabei sollte sie doch vor allem die Menschen ernähren, die den Boden bearbeiten.“ Faire lokale Vermarktung, Vielfalt statt Monokulturen, die Kontrolle behalten über das Saatgut – das seien unter anderem wichtige Voraussetzungen für Gerechtigkeit. Doch noch einmal Theorie und Praxis. „Selbst wir als Kirche halten uns doch vielfach nicht an unsere eigenen Visionen. Immer noch wird in vielen unserer Häuser der billigste Kaffee ausgeschenkt, um fair gehandelte Produkte ein Bogen gemacht. Wir werden nichts erreichen, wenn wir nicht mit Leib und Seele umdenken“, so Spiegel.

Bischof Heiner Wilmer sah es ähnlich: „Wir müssen weltweit zusammenhalten, dazu gibt es keine Alternative.“ Internationale Gerechtigkeit zeige sich nicht nur in Sachen Landwirtschaft, sondern aktuell auch bei der Verteilung des Impfstoffes gegen Corona.

Im Bistum Hildesheim werde schon seit einiger Zeit versucht, der Verantwortung als Landbesitzer gerecht zu werden, erläuterte Wilmer. „Wir verpachten rund 3000 Hektar, vor allem Ackerland. Die Verträge sind so gestaltet, dass sie für die Landwirte und ihre Familien positiv sind.“ Gentechnik sei in diesem Zusammenhang ebenso verboten wie das Düngen mit Klärschlamm. Ein Landwirt habe jetzt komplett auf biologischen Anbau umgestellt. „Wir unterstützen ihn dadurch, dass wir die Pacht gesenkt haben.“ Im übrigen arbeite eine Projektgruppe des Bistums „mit Hochdampf am komplexen Thema Nachhaltigkeit“ auch über die Landwirtschaft hinaus. Der Bischof: „Es gibt erste Erfolge, aber noch viel Luft nach oben.“ Außerdem sprach sich Wilmer dafür aus, die echten Kosten für Nahrungsmittel auszuweisen – also zum Beispiel auch die Kosten zu berücksichtigen, die durch die Zerstörung der Umwelt zu Buche schlagen. Auch eine Art Solidaritätszuschlag könne er sich durchaus vorstellen und das Fach „Globales Lernen“ in den Lehrplan aufzunehmen.

Maria Flachsbarth vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sagte, Bolivien stehe vor besonderen Herausforderungen vor allem durch die Folgen des weltweiten Klimawandels. Sie kritisierte die unkontrollierten Brandrodungen durch internationale Konzerne und sprach sich für eine „sozial gerechte, vernünftige und nachhaltige Landwirtschaft“ aus. Um das zu erreichen, arbeite das BMZ gern mit den Kirchen und ihren Netzwerken zusammen. Flachsbarth erinnerte daran, bei der Frage nach Gerechtigkeit auch Themen wie Frauenrechte sowie Kinder- und Zwangsarbeit im Blick zu haben. Zugleich erinnerte sie an die Verantwortung der Verbraucher: („Sie entscheiden mit ihrem Kaufverhalten über Produktionsbedingungen“), habe Sympathie für  eine Art Internationalen Umweltgerichtshof, frage sich aber auch, was er tatsächlich ändern könne.

Anne von Aaken, Expertin für Völker- und Europarecht, wies darauf hin, dass sich Deutschland derzeit nicht für ein strengeres Lieferketten-Gesetz erwärmen könne. „Dabei wollen viele Kunden wissen, woher ihre Lebensmittel kommen. Das müssen wir politisch möglich machen. Denn wenn alle kritisch auf ihren Speiseplan blicken, wäre schon viel erreicht.“

Stefan Branahl