St. Georg in Brochthausen – Neugotik

Die tröstende Kraft der Erinnerung

Image

Die Menschen im Eichsfeld standen nicht unbedingt an der Spitze von Veränderungen. Sie waren erdverbunden und hatten es gerne sicher und geborgen. Das drückten sie auch im Bau ihrer Kirchen aus: St. Georg in Brochthausen – ein typisches Beispiel der Neugotik.


Reiche Verzierungen, Farbenpracht und aufwändig gestaltete Fenster – ein Blick in den Altarraum der neugotischen Kirche
St. Georg.

Kirchen können auch deshalb ein Stück Heimat sein, weil sie daran erinnern, dass hier seit Generationen Menschen beten und hoffen, zweifeln, feiern und trauern. Gotteshäuser sind besondere Orte, man kann eine Kerze anzünden oder auch einfach nur dasitzen, durchatmen, schauen und aus dem Alltag heraustreten. So wie in der neugotischen Kirche in Brochthausen, einem Ortsteil von Duderstadt im Eichsfeld. Dieser selbstbewusst aufragende Bau aus rotem Backstein überragt die Einfamilienhäuser in diesem kleinen Kirchort mit seinen rund 550 Einwohnern. Mit ihrer enormen Fülle an Schmuck, Verzierungen, Andachtsbildern, Figuren, Türmchen, Kandelabern und Wandgemälden, mit ihrer reich verzierten Decke und ihrer Farbigkeit im Innern gehört die dreischiffige Hallenkirche zu den charakteristischen Gotteshäusern der Neugotik. Bemerkenswert ist, dass die historische Ausstattung der 1890/91 erbauten Kirche nahezu vollständig erhalten ist.

Zum 100. Geburtstag komplett restauriert

„Wir haben hier die typische Ansammlung unterschiedlicher Stilmerkmale, die sich an der Gotik orientieren, die Giebeldächer am Altar und an den Rahmen der Kreuzwegstationen, die so genannten Fialen oder auch Spitztürmchen und die Kreuzblumen gehören dazu. Wir finden aber auch Elemente des Jugendstils“, erläutert die Kunsthistorikerin und Leiterin des Heimatmuseums Duderstadt Sandra Kästner. Zum 100. Geburtstag von St. Georg wurde die gesamte Kirche restauriert, man hat die neugotischen Wand- und Deckenmalereien freigelegt und konnte sie mit Hilfe der Originalschablonen wieder sichtbar machen. Auch die Ausmalungen mit biblischen Szenen wurden gesäubert und leuchten jetzt in kräftigen Farben auf goldenem Grund. Wer sich in Ruhe umschaut, entdeckt zahlreiche Details, verschlungene Ornamente, reich verzierte Sockel, ausladende Faltenwürfe. Das ist großes Glaubenskino im Licht einer verklärten Vergangenheit. Und doch hat es auch etwas Tröstendes.

Sämtliche Holzeinbauten, vom Altar bis zum Beichtstuhl,  wurden in der Duderstädter Werkstatt Friedrich Oppermann gefertigt, auch die Orgel von 1897 hat eine Duderstädter Firma gebaut. Das Gotteshaus ist also fest mit den Menschen und ihrer Geschichte vor Ort verbunden. „Sogar die Ziegel stammen aus einer Dampfziegelei hier in der Umgebung“, ergänzt der Heimatpfleger Rudolf Sommer. Er hat eine Chronik zur Baugeschichte von St. Georg zusammengestellt. Daraus geht hervor, dass es in Brochthausen schon im 14. Jahrhundert eine Kirche oder Kapelle gab, im 16. Jahrhundert folgte ein Fachwerkbau, er wurde abgerissen, weil er für die wachsende Gemeinde zu klein geworden war. Man musste und man wollte höher und größer bauen. An den Vorgängerbau erinnern die vier Barockfiguren an den Pfeilern, weitere historische Ausstattungsstücke werden im Städtischen Museum im Göttingen verwahrt. Die ganze Gemeinde beteiligte sich am Bau „ihrer“ neuen Kirche „im frügothischen Stile“ unter der Leitung des ortsansässigen Baumeisters Jacob Brämer. Ein Zeitzeuge von  1890 berichtet: „Am 17. Oktober waren wir so glücklich, das Richtfest des Thurmes feiern zu können. Jung und alt hatte sich zu der Feier zahlreich versammelt.“ Dann folgen die Namen all jener aus der Umgebung, die am Bau beteiligt waren; die Errichtung der neuen großen Kirche und ihrer üppigen Ausstattung war ein Heimspiel – eine Kirche im Dorf am Südrand des Harzes. Bis heute ist das Gotteshaus, in dem nur noch gelegentlich Gottesdienst gefeiert wird, ein zentraler Ort der Erinnerung und Identifikation für die verbliebenen Gemeindemitglieder.
 


Die Kirche St. Georg in Brochthausen (Eichsfeld).

An den vielen Kirchen, die um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert gebaut wurden, lässt sich aber auch noch etwas anderes ablesen. Der Theologe und Kirchenbauexperte Johann Hinrich Claussen spricht von einer „inneren Paradoxie“ in jener Zeit. Er schreibt: „Man lebte mitten in einer explodierenden Moderne und wirkte an ihr mit, zugleich aber spürte man ein Bedürfnis nach Vergewisserung im Vergangenen, wie es frühere Epochen nicht gekannt haben. Je schneller die Innovationen sich ablösten, umso größer war der Wunsch, in alten Gestaltungen eine Halt zu finden.“

Ein Rückgriff auf das Mittelalter?

So vermitteln die neugotischen Kirchen mit ihrer Sakralität auch etwas Erbauliches. Den Menschen, die sie errichteten, ging es weniger um Aufbruch als vielmehr um den Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit. Bis heute sind diese Bauwerke auch bei vielen Menschen beliebt, die der Kirche ansonsten fern stehen, vielleicht deshalb, weil diese neugotischen Gotteshäuser an ein geträumtes Mittelalter anknüpfen. Nur, dass alles sehr viel bunter und makelloser daherkommt. Der katholische Religionspädagoge Hubertus Halbfas ist eher skeptisch, wenn er an die Botschaft der Neugotik denkt: „Dieser Rückgriff auf das Mittelalter gefiel dem kirchlichen Denken. Gerade weil die Welt sich ringsum stürmisch veränderte, beschwor die Christenheit inbrünstig ihre Tradition. Man pries die Gotik als idealen Kirchenbaustil. (...) Die Sprache der kirchlichen Kunst erschöpfte sich in Wiederholungen.“ Die stattliche Kirche St. Georg in Brochthausen verweist bis heute darauf, mit wie viel Stolz und Glaubenskraft die Menschen einst an ihrem Gotteshaus gebaut haben.

Die Kirche St. Georg in Brochthausen ist täglich geöffnet.

Karin Dzionara

 

Stilelemente

Daran erkennen Sie eine Kirche im Stil der Neugotik:

  • Perfekt vollendete hohe Türme
  • Aufragender Chor mit großen Fenstern
  • Überfülle an Maßwerk und verzierten Spitztürmchen (Fialen)
  • Ausladendes Strebewerk