Bei schweren Verkehrsunfällen sind oft Notfallseelsorger im Einsatz
Die Verzweiflung mit aushalten
Eine Gedenkveranstaltung in Mühlhausen für die Opfer des Verkehrsunfalls auf der B 247. Auch hier waren Notfallseelsorger präsent. Foto: imago images/Jacob Schröter |
„Wir haben in unserer Ausbildung das ,Handwerkszeug‘ für solche Einsätze mitbekommen, aber dann ist doch jeder Einsatz unerwartet anders“, sagt Claudia Wanierke. Mit dem Einsatz auf der B247 am 1. April hatte sie nichts zu tun. Was es bedeutet, zu einem Notfalleinsatz gerufen zu werden, ist der Seelsorgerin aus Arnstadt aber sehr vertraut. Sie hört den schrillen Warnton der App „Divera 24/7“ auf ihrem Handy immer dann, wenn Einsatzleiter in ihrem Landkreis bei plötzlichen Todesfällen Seelsorger anfordern.
Das können erfolglose Wiederbelebungsversuche sein, Suizide oder Verkehrsunfälle. Der Notarzt vor Ort, die Einsatzleiter der Polizei oder der Feuerwehr melden den Bedarf dann der Rettungsleitstelle. Unfälle mit mehreren Toten – wie am 1. April – können das regionale Notfallseelsorgeteam überlasten. Dann wird zuerst in den benachbarten Landkreisen Verstärkung angefordert.
Wenn Claudia Wanierke den Signalton auf ihrem Handy hört und Zeit hat, drückt sie auf das Symbol für Bereitschaft und meldet der Rettungsleitstelle, dass sie den Einsatz übernehmen kann. Vor Ort angekommen, kümmert sie sich um die trauernden Angehörigen. Wie sie ihren Dienst sieht, schrieb sie am Wochenende des B247-Unfalls in einem Impuls für die örtliche Tageszeitung. Was sie für die Menschen tut, erinnere sie an Veronika, die Jesus auf seinem Kreuzweg ein Tuch reiche, nicht so sehr an die Frauen, die am Wegrand klagen: „Veronika kann nicht viel tun, sie kann Jesus weder die Schmerzen nehmen, noch den Tod am Kreuz verhindern. Doch sie zeigt durch ihre Tat Anteilnahme“, schrieb sie. „Es ist dieser kurze Moment der Begegnung, der für beide ein Geschenk wird.“
Auch als Notfallseelsorgerin könne sie den Trauernden den Schmerz nicht nehmen und die Verstorbenen nicht wieder lebendig machen. Sie könne aber da sein, Verzweiflung und Leid mit aushalten. Wie Veronika kommt sie für einen kurzen Moment und geht dann wieder. Und sie hofft für die Trauernden, dass ihr Dasein ihnen Halt und Kraft gegeben hat für ihren Schmerzensweg.
Oft hält sie einfach schweigend die Trauer in ihren unterschiedlichen Erscheinungsgformen aus, Weinen, Klagen, Durcheinander ... Manches, was sie wahrnimmt, fasst sie in Worte. „Es ist normal zu weinen nach einem solchen Verlust“, sagt sie Menschen, die sich für ihre Tränen schämen. „Es ist normal, jetzt nicht weinen zu können, völlig überfordert zu sein von der Situation“, sagt sie denen, die keine Tränen haben.
Jeder wird anders mit dem Leid fertig
Dass sie die Beteiligten nicht kennt und selbst nicht um einen geliebten Menschen trauert, ermöglicht ihr, beruhigend zu wirken. Manchmal kann sie mit praktischen Tipps helfen, zum Beispiel bei der Suche nach einem Bestattungsinstitut. Dabei empfiehlt sie kein Unternehmen, sondern fragt, ob es bereits Erfahrungen mit Bestattungsinstituten gibt.
Bei Menschen, die außer Haus tot aufgefunden wurden, wägt sie mit den Hinterbliebenen ab, ob es noch eine würdige Abschiednahme braucht. Für viele sei es wichtig, den Verstorbenen zu sehen, um zu realisieren, dass er tatsächlich gestorben ist. Es gebe aber auch Ängste davor, und es gelte herauszufinden, ob sie berechtigt sind.
Nach zwei bis drei Stunden ist Claudia Wanierkes Einsatz in der Regel beendet. „Alles weitere ist dann Aufgabe von Trauerbegleitern oder Psychologen.“ Nur ganz selten nimmt sie an der Beerdigung eines Menschen teil, deren Angehörige sie als Notfallseelsorgerin begleitet hat. Da die Gemeindereferentin auch Trauerbegleiterin ist, kommt es aber vor, dass sie Hinterbliebene, die sie darum bitten, weiter begleitet – dann aber in einer anderen Rolle.
Die psychosoziale Notversorgung von Rettungskräften gehört ebenfalls zu den Aufgaben der Notfallseelsorge. Die Seelsorger haben dafür eine gesonderte Ausbildung und werden von Einsatzkräften unterstützt, die Belastungen ihres Dienstes aus eigener Erfahrung kennen. Auch hier ist die Aufgabenverteilung klar abgegrenzt: In der Begleitung der Rettungskräfte kommen – meist ein bis zwei Tage nach dem Einsatz – nur Seelsorger und Rettungskräfte zum Zug, die selbst nicht am Einsatz beteiligt waren.
Mehr als die Hälfte der Seelsorger in Claudia Wanierkes Team sind keine Christen. Ihr Handeln unterscheidet sich kaum voneinander, wohl aber die Motivation und die Strategien, mit dem Leid fertig zu werden. Sie selbst sieht ihren Dienst als Ausdruck einer Berufung, die Gott ihr gegeben hat. Nach dem Einsatz zündet sie häufig in der Kirche eine Kerze für die Verstorbenen an, manchmal spricht sie auch am Einsatzort – unhörbar für die anderen – ein Gebet. Im November laden die Notfallseelsorger zu einem Gottesdienst ein für alle, die sie das Jahr über begleitet haben.
Gegenüber den Menschen, die sie am Einsatzort antrifft, sagt Claudia Wanierke zwar, dass sie von der Kirche kommt. Den christlichen Glauben bringt sie aber äußerst selten zur Sprache – nur dann, wenn sie spürt, dass es hilfreich ist. Auch darin fühlt sie sich mit Jesus verbunden. Auch er habe die frohe Botschaft nicht immer mit Worten verkündet, sondern oft einfach durch seine Taten, ruft sie in Erinnerung. Mit einer irdischen Sicht auf die Auferstehung könnten im übrigen Ungetaufte, die gerade einen lieben Menschen verloren haben, oft durchaus etwas anfangen. Ihnen sagt sie zum Beispiel: „Es braucht Zeit, den Menschen loszulassen, der hier mit Ihnen gelebt hat, und Zeit, eine Beziehung zu dem Menschen aufzubauen, der jetzt in ihrem Herzen weiterlebt. Denn die Liebe zu einem Menschen ist wie ein Samen, der diesen neuen Menschen in Ihnen wachsen lässt.“
Schaulustige wegschicken!
Um dauerhaft Kraft für aufreibende Einsätze zu behalten, lässt Claudia Wanierke die begleiteten Menschen innerlich wieder los, wenn sie den Einsatzort verlässt. „Ich könnte diesen Dienst nicht tun, wenn ich mit jedem mitsterben würde“ ist ihr klar. Natürlich gebe es Einsätze, die ihr ein Leben lang nachgehen, räumt die Gemeindereferentin ein, etwa, weil sie mit der eigenen Lebensgeschichte zu tun hätten oder weil sie so gravierend waren. Solche Erfahrungen könne sie in einer Supervision ansprechen.
Sich Nachrichten wie die über den Unfall auf der B247 nicht im Fernsehen anzuschauen, ist für sie Teil ihres Selbstschutzes. Die Grenzen von ehrlicher Anteilnahme und Schaulust sind ihrer Wahrnehmung nach oft fließend. „Die Klageweiber in der Passionsgeschichte sind durchaus bestürzt. Aber da schwingt auch der Gedanke mit: Gott sei Dank passiert mir selbst das nicht.“
An Einsatzorten muss sie Angehörige immer häufiger vor Passanten oder Journalisten schützen, die kein Detail der Trauer verpassen wollen. „Ich finde das unsäglich, und es belastet mich mehr als der schlimme Fall an sich“, sagt die Seelsorgerin. Unmittelbar nach einem Schicksalsschlag sagten Menschen oft komische Dinge, die sie sonst nie sagen würden. Über die sozialen Medien blieben solche Aussagen dann für immer und ewig in der Öffentlichkeit. „Das tut mir in der Seele weh“, betont Claudia Wanierke. Die Leser dieses Artikels bittet sie, Verantwortung zu übernehmen, wenn sie zufällig an einen Einsatzort von Rettungskräften kommen: „Fordern Sie andere Passanten auf, mit Ihnen zusammen weiterzugehen und den Einsatzkräften nicht im Weg zu stehen!“
Von Dorothee Wanzek