80 Jahre nach Kriegsende: Blick auf die berühmte Rede von Richard von Weizsäcker

Diese Worte lösten ein Beben aus

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Richard von Weizsäcker bei seiner Rede 1985
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Foto: picture-alliance/dpa

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45 Minuten dauerte die berühmte Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahr 1985, 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ zu sehen, war in der Bonner Republik lange nicht selbstverständlich. Das änderte sich mit der berühmten Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahr 1985. Ein Generationengespräch in Osnabrück soll ausloten, was davon noch aktuell ist und wo es aus heutiger Sicht Grenzen gibt.

Totenstill war es im Parlament, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 seine Rede zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges hielt. So jedenfalls schilderten Journalisten der New York Times die Atmosphäre. Noch heute gelten diese 45 Minuten als Meilenstein in der Geschichte der Bundesrepublik, als Wendepunkt in der deutschen Erinnerungspolitik. Vom Manuskript wurden damals zwei Millionen Exemplare gedruckt und in 13 Sprachen übersetzt.

Heute verstehen junge Menschen oft gar nicht mehr, was an der Rede so besonders war, denn vieles, was gesagt wurde, ist doch selbstverständlich. Vor 40 Jahren war es das nicht. Richard von Weizsäcker nannte den 8. Mai erstmals einen „Tag der Befreiung“, der „uns alle befreit hat von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“.

Diese Worte lösten ein Beben aus in der späten Bonner Republik. Damit hob sich der Bundespräsident deutlich vom Denken der Nachkriegszeit ab. Rückte Opfergruppen ins Bewusstsein, die bis dahin im offiziellen Gedenken kaum repräsentiert waren. Wandte sich gegen Versuche, sich mit Nichtwissen zu entschuldigen: „Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.“

Der Theologe Michael Schober hat die Weizsäcker-Rede oft gelesen. 80 Jahre nach Kriegsende beschäftigt sie den Beauftragten für den interreligiösen Dialog im Bistum Osnabrück erneut. Am 8. Mai gestaltet er zusammen mit dem Theologen Josef Könning und der Historikerin Juliane Brauer ein Generationengespräch dazu im Osnabrücker Forum am Dom (siehe „Termin“). Er sagt, er schätze die Rede sehr, sehe aber auch, wo sie heute ihre Grenzen habe. Ein Zitat, das er bis heute hilfreich findet: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“

Michael Schober
Theologe Michael Schober Foto: Anja Sabel

Aus dem „sie“ würde Schober heute ein „wir“ machen. Das, betont er, könne auch die junge Generation ohne Schuldkomplex annehmen. „Wir müssen um unsere Demokratie kämpfen, uns ganz klar gegen Antisemitismus und jede Form von Diskriminierung wenden. Das sehe ich als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ein Weltkrieg, die Shoah, so etwas darf sich niemals wiederholen.“

Am Schluss der Rede heißt es: „Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“ Das sei nach wie vor eine wichtige Sache, findet Schober. „Wir wissen aus der eigenen Geschichte, wie schnell Vorurteile, Feindschaften und Hass geschürt werden und daraus Taten bis hin zu den größten Verbrechen folgen können. Deswegen ist es so gefährlich, Politik damit zu machen, Menschen gegeneinander aufzuhetzen.“ Im interreligiösen Dialog, sagt Schober, gehe es darum, in Kontakt zu sein, ohne alle Ansichten zu teilen und (Vor)Verurteilungen zu vermeiden. „Das ist ein wichtiges Gut – gerade in unserer Blasengesellschaft.“

An einigen Stellen "sehr pastoral"

Josef Könning, Bildungsreferent in Haus Ohrbeck bei Osnabrück, hat Weizsäcker als aktiven Politiker und Bundespräsidenten nicht mehr erlebt. Er empfindet die Rede an einigen Stellen als „sehr pastoral“, da werde beispielsweise die deutsche Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg mit Joachim Kardinal Meisner als „Ergebnis der Sünde“ bezeichnet. Bemerkenswert sei insgesamt, wie selbstverständlich Weizsäcker auf religiöse Kategorien zugreife: Schuld und Sühne, Versöhnung und Erlösung. „Im Kontext nationaler Identitätsstiftung ist ein religiös konnotierter Erinnerungsbezug provokant und problematisch.“ In einer Zeit, in der etwa unter der Trump-Regierung aus den USA eine „christliche Nation“ gemacht werden solle, die Nation gleich selbst religiös aufgeladen werde oder in Deutschland auf polemische Weise vom „christlichen Abendland“ gesprochen werde, erscheine auch Weizsäckers Beanspruchung der Religion in einem neuen Licht. Damit müsse man sich aus religiöser Sicht kritisch auseinandersetzen.

Weizsäcker zitiert den jüdischen Gelehrten Baal Shem Tov: „Das Vergessen-Wollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Diese eigentlich religiös gemeinte Aussage ist heute in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem verewigt. „Erinnern bedeutet leider nicht, dass man etwas ungeschehen oder wiedergutmachen kann. Es ist aber die einzige Möglichkeit, den Opfern noch etwas Gutes zu tun, dass wir sie und ihr Leid nicht einfach vergessen“, so Michael Schober.

Josef Könning
Theologe Josef Könning Foto: Anja Sabel

Die Erinnerung zu wahren, sei nicht nur eine Pflicht, sondern ein Gut. „Dadurch, dass sich Menschen – zwar spät und nicht ohne Widerstände, aber letztlich doch klar – ihrer Geschichte gestellt haben, war es möglich, dass unser Land wieder Ansehen gewonnen hat.“ Das sei aber kein Grund, damit etwa zu prahlen oder überheblich zu werden. „Das Erschütternde ist ja, dass die meisten Täterinnen und Täter nicht einmal Reue gezeigt haben.“

Die Begegnung mit Überlebenden, deren Familien ermordet wurden und die dennoch zur Versöhnung bereit waren, haben den Dialogbeauftragten immer wieder den Respekt vor wahrer menschlicher Größe spüren lassen. „Das erscheint unmöglich, aber nicht wenige haben genau das getan, wie viel Kraft sie das auch immer gekostet haben mag – das ist ein Geschenk, das an ein Wunder grenzt und das wir ehren sollten.“

In der Erinnerung liege auch die Möglichkeit, wieder frei auf Jüdinnen und Juden zuzugehen, gemeinsame Verbindungen in Tradition, Überzeugungen und Interessen zu entdecken, merkt Schober an. „Wir sollten über die Erinnerung also auch nicht die Begegnung mit den Lebenden vergessen. Treten wir dafür ein, dass in unserer vielfältigen Gesellschaft jeder und jede frei und ohne Angst leben kann.“

Erinnerung ist für Josef Könning ein dynamischer Prozess. Deshalb, sagt er, solle der Abend zur Weizsäcker-Rede keine historische Lehrstunde sein, sondern zu einem Gespräch über Gegenwart und Zukunft einladen – und zwar generationenübergreifend.

Anja Sabel
Termin

Die Historikerin Juliane Brauer (Universität Wuppertal) sowie die beiden Theologen Josef Könning und Michael Schober gehen am Donnerstag, 8. Mai, um 19.30 Uhr im Forum am Dom (Osnabrück) der Frage nach, was uns die berühmte Rede von Richard von Weizsäcker heute noch sagen kann und worin ihre Grenzen liegen. Der Eintritt ist frei.

Die Rede zum Nachlesen finden Sie hier