Ein „Erdbeben“, aber gewollt
Die katholische Kirche will beim Hamburger „Religionsunterricht für alle“ dabei sein. Dieser Schritt hat religionspolitische Brisanz, aber alle Beteiligten sind sich einig: Die Beteiligung der katholischen Kirche bringt Vorteile für alle.
„Religiös betrachtet ist das ein Erdbeben“, sagte Senator Ties Rabe (SPD). Und er lobte den Erzbischof von Hamburg als einen „mutigen Mann“. Denn was gerade passiere, könne Signalwirkung haben. „Der Hamburger Weg wird von anderen Bundesländern und von anderen Religionsgemeinschaften mit großer Aufmerksamkeit beobachtet.“ Der Hamburger Weg, damit meint Rabe den „Religionsunterricht für alle“. Evangelische, katholische, jüdische, muslimische und alevitische Schüler werden gemeinsam unterrichtet. Ties Rabe, selbst ehemaliger Religionslehrer, ist entschiedener Verfechter dieser Hamburger Spezialität.
Das „Erdbeben“ ist auf den ersten Blick kein spektakuläres Naturereignis. Die katholische Kirche will sich künftig an dem Modell beteiligen, was in einer Pressekonferenz am 28. April mitgeteilt wurde. Für die 24 000 betroffenen katholischen Schüler auf staatlichen Schulen ändert sich nicht viel. Sie bekommen schon jetzt „Religionsunterricht für alle“. Etwas mehr ändert sich für die 100 katholischen Religionslehrer an städtischen Schulen. Sie arbeiteten in einer „Grauzone“, denn sie gehörten einer Glaubensgemeinschaft an, die nicht „mitmachte“. Das ändert sich jetzt, wie Erzbischof Stefan Heße ausführte. Künftig bekommen die katholischen Lehrer die Sendung des Bischofs, ebenso wie die Lehrer der anderen Religionen von ihren Gemeinschaften beauftragt werden.
Das eigentliche Erdbeben, von dem der Senator sprach, ist religionspolitischer Art. Nach dem Grundgesetz ist der Inhalt des Religionsunterrichts nicht Sache des Staates, sondern der Religionen. Die Kirchen können bestimmen, was unterrichtet wird und wer unterrichtet. Und es geht nicht um eine wertneutrale Religionskunde, sondern um eine Einführung in die eigene Religion. Es heißt dann nicht etwa: „Am 25. Dezember feiern katholische und evangelische Christen Weihnachten“. Sondern: „Wir feiern Weihnachten.“ Und anders als bei Mathe oder Deutsch können Eltern ihre Kinder abmelden, wenn sie das Fach Religion nicht wollen.
Um das Ausnahmeschulfach Religion gab es immer schon Auseinandersetzungen. Als das Land Brandenburg 1996 das Fach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ einführte, reagierten die Kirchen mit einer Verfassungsbeschwerde.
In Hamburg hat das Thema eine eigene Vorgeschichte. Lange galt hier die ungeschriebene Regel: Die Katholiken haben ihre katholischen Schulen, dafür gibt es an den anderen Schulen nur evangelischen Religionsunterricht. Die katholische Kirche bot dafür „außerschulischen Religionsunterricht“ in Gemeinderäumen an.
Eine kleine Wende brachte das Jahr 2006. In Folge des Staatsvertrags zwischen Hamburg und dem Heiligem Stuhl wurden tatsächlich an einigen Schulen katholische Unterrichtsgruppen gebildet. Aber es kamen nur sehr wenige zustande. Zur Zeit sind stadtweit 120 Schüler beteiligt.
Gemeinsam mit Juden, Christen und Muslimen
Viel größer war der Schritt, der auf einen anderen Staatsvertrag folgte – das Abkommen zwischen Hamburg und den muslimischen Verbänden 2012. Seitdem sind die Muslime beim „Religionsunterricht für alle“ dabei. Das bedeutet, dass eventuell muslimische Lehrer christliche Schüler in Religion unterrichten oder christliche Religionslehrer Kinder, die sich zum Islam bekennen.
Bevor die katholische Kirche sich zum „Beitritt“ entschlossen hat, hat sie zwei Jahre lang in einem Modellprojekt die eigene Rolle getestet. Mit dem Ergebnis: Es funktioniert. Der Religionsunterricht für alle bietet den Religionen die nötige Gestaltungsfreiheit. Die Lehrer unterrichten im Auftrag ihrer Religionsgemeinschaft, besitzen aber Hochschulabschluss und staatliche Lehrbefähigung. Der Unterricht ist eine Kombination aus gemeinsamen Anteilen und konfessionsspezifischen Anteilen – ein Teil des Lehrstoffs ist also nur auf die katholischen oder evangelischen Schüler ausgerichtet.
Erzbischof Stefan Heße zieht aus dem Test ein positives Resumee. Für die katholische Kirche und für die katholischen Schüler sei der Einstig „ein deutliches Plus“. „Es ist gut, dass alle Schülerinnen und Schüler an den staatlichen Schulen zukünftig Gelegenheit haben, auch dem katholischen Christentum authentisch zu begegnen. Für uns als Diasporakirche ist dies ein wichtiges Anliegen.“
Nachahmen lasse sich die Hamburger Schulspezialität aber nicht ohne weiteres, noch nicht einmal für Mecklenburg-Vorpommern oder Schleswig-Holstein.
Mit dieser Aussage will Erzbischof Heße nicht nur diejenigen Amtsbrüder beruhigen, die das „religiöse Erdbeben“ auch anderswo befürchten. Tatsächlich besitzt die Hansestadt den geeigneten Nährboden für das anspruchsvolle Rufa-Modell: Viele Religionen, ein großes Potential von Religionsvertretern und Pädagogen, räumliche Nähe und nicht zuletzt einen gewissen gelassenen Pragmatismus, der sich von Erdbeben und kleineren Erschütterungen nicht aus der Fahrrinne drängen lässt.
Text: Andreas Hüser