Errichtung der Aufarbeitungskommission stockt

Ein Konflikt mit Signalwirkung

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In Erfurt, Magdeburg und anderen deutschen Bistümern hat die Aufarbeitung der Fälle sexuellen Missbrauchs begonnen. In den (Erz-)Bistümern Berlin, Dresden–Meißen und Görlitz hakt es derzeit bei der Errichtung einer Aufarbeitungskommission.

Seit dem 3. November wartet der ostdeutsche Betroffenenbeiratssprecher Michael Köst auf Post von den Bischöfen, bisher vergeblich. Damals hatte der Betroffenenbeirat den Bischöfen geschrieben, dass er die Entsendung seiner Mitglieder in die Aufarbeitungskommission der (Erz-)Bistümer Berlin, Dresden-Meißen, Görlitz und der katholischen Militärseelsorge ruhen lässt, der Konstituierung der Kommission widerspricht und dass er ein Gesprächsangebot erwartet.
Zum Hintergrund: In einer Gemeinsamen Erklärung hatte sich die Deutsche Bischofskonferenz vor zweieinhalb Jahren mit dem Bundesbeauftragten für Fragen sexuellen Missbrauchs auf verbindliche Standards bei der Missbrauchs-Aufarbeitung in den deutschen Bistümern geeinigt. Dazu gehörte die Errichtung unabhängiger Aufarbeitungskommissionen, in denen neben Vertretern der Kirche auch durch die Bundesländer benannte Experten und Betroffene maßgeblich mitarbeiten. Die Idee dahinter: Bischöfe sollten die Verantwortung für eine konsequente und transparente Aufarbeitung übernehmen, die Steuerung dafür aber aus der Hand geben.
Unter ostdeutschen Betroffenen sexualisierter Gewalt wachsen Zweifel, ob die beteiligten Bischöfe tatsächlich an einer unabhängigen Aufarbeitung interessiert sind. Seit die Freie Presse in Chemnitz am 16. November über den Fall berichtet hat, entfaltet er deutschlandweit Signalwirkung. Interessierte Katholiken beobachten aufmerksam, ob der Kirche die Aufarbeitung ihrer Missbrauchsfälle aus eigener Kraft gelingt.  

Mitwirkungsmöglichkeit Betroffener beschnitten
Anlass für die Entscheidung der Betroffenen, ihre Mitarbeit ruhen zu lassen, war nach Informationen der Freien Presse, dass die Bischöfe die Mitwirkungsmöglichkeiten Betroffener in der noch nicht konstituierten Kommission am 15. Oktober massiv beschnitten hatten. Nach einer Satzungsänderung, von der die Betroffenen erst nach der Veröffentlichung in den Amtsblättern der Bistümer erfuhren, dürfen sie nun doch nicht in der Leitung der Kommission mitarbeiten. „Die Bischöfe nehmen vom Beirat entsandten Mitgliedern der Kommission damit wesentliche Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten“, wird Betroffenenbeiratssprecher Michael Köst zitiert.
Auf Nachfrage begründeten die Bischöfe diesen Schritt mit einer „notwendigen Angleichung an die Inhalte der Gemeinsamen Erklärung.“ Tatsächlich geht die Textänderung aber über den Inhalt der Erklärung hinaus. Sind dort die Betroffenen lediglich vom Vorsitz der Kommissionen ausgeschlossen, schoben die Bischöfe nun auch einen Riegel vor ihren Einsatz als stellvertretende Vorsitzende.

Einsicht in relevante Akten beschränkt
Dabei ist der Ausschluss Betroffener vom Kommissionsvorsitz 2020 offenbar gar nicht aus sachlichen Gründen in den Text der Gemeinsamen Erklärung aufgenommen worden. Laut Auskunft eines Sprechers der Bundesbeauftragten war diese Passage ein Ergebnis von Verhandlungen. Wenn Vertreter der Kirche den Vorsitz nicht übernehmen dürften, sollte dies für die Vertreter der Betroffenen ebenso gelten, hatten Verhandlungsführer der Deutschen Bischofskonferenz eingebracht.
Andere Passagen ihrer zu Jahresbeginn erstellten Kommissionsordnung ließen die (Erz-)bischöfe Heiner Koch, Heinrich Timmerevers, Wolfgang Ipolt und Franz-Josef Overbeck trotz erheblicher Abweichungen von der Gemeinsamen Erklärung hingegen unverändert. Beispielsweise änderten sie nichts an ihrer Festlegung, dass die mit der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs Betrauten einen großen Teil der relevanten Akten nicht einsehen dürfen. Sowohl die Akten, die bei den  kirchlichen Gerichten lagern als auch die kompletten Unterlagen der katholischen Militärseelsorge sind von der Akteneinsicht ausgenommen. Bedenken gegen diese Festlegungen hätten die Betroffenen nicht erst im Zuge ihres Mitwirkungs-Boykotts geäußert, teilte Michael Köst auf Tag des Herrn-Nachfrage mit. Sie hätten am 3. November allerdings noch einmal ihre Auffassung bekräftigt, dass diese Vorgaben nicht zu einer gelingenden Aufarbeitung passten.
Die Unabhängigkeit der Aufarbeitung soll laut Gemeinsamer Erklärung nicht nur durch die Mitwirkung Betroffener, sondern insbesondere auch durch von den Ländern benannte Experten gesichert werden. Vertreter aus Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin sind unterdessen für die Aufarbeitungskommission ausgewählt worden.
Fraglich ist allerdings, ob die Kirchen Einfluss auf die Auswahl der Experten genommen haben und ob sie ihnen den Auftrag, unabhängige Aufarbeitung zu gewährleisen, überhaupt nahegebracht haben. Die Bischöfe beantworten zu dem Fall derzeit keine weiteren Fragen, weil sie den entstandenen Konflikt ohne Öffentlichkeit klären wollen.

Laienvertreter schalten Vermittler ein
Sachsens Regierungssprecher Ralph Schreiber antwortete auf die Frage, wie die Auswahl in seinem Bundesland erfolgte: „Die Besetzung des Gremiums ist innerkirchlichen Entscheidungen vorbehalten, auf die seitens der Staatskanzlei kein Einfluss genommen werden kann. Experten wurden auch nicht entsandt, sondern dem Bistum auf Wunsch anempfohlen.“ Auch aus der Konfliktlösung halte man sich heraus. Eine Beteiligung widerspräche seiner Auffassung nach der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche: „Kircheninterne Maßnahmen der Aufarbeitung, kirchenrechtliche Verfolgung, Entschädigung und Prävention sind vom verfas­sungsrechtlich geschützten institutionellen Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religions­gemeinschaften umfasst und daher einer staatlichen Kontrolle und Bewertung entzogen.“
Inzwischen teilen auch die gewählten Vertreter der katholischen Laien die Bedenken des Betroffenenbeirats. Sie stellen in Frage, dass es den Bistümern ohne zusätzliche Begleitung von außen gelingen wird, ihre Aufarbeitungskommission arbeitsfähig zu machen. Die Vorsitzenden der Diözesan- und Katholikenräte in den beteiligten Bistümern haben die amtierende Bundesbeauftragte Kerstin Claus um Vermittlung gebeten und darüber in einer Pressemitteilung informiert. Sie hätten ihre Auffassung dargelegt, dass Betroffene von Anfang an bei der Gestaltung der unabhängigen Aufarbeitungskommission beteiligt werden müssen.
„Aufgrund des langen Vorlaufs und der neuen Entwicklung halte ich es für unwahrscheinlich, dass die Bistümer aktuell selbstständig in der Lage sind, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Kommission ihre Arbeit aufnehmen kann“, äußerte die Berliner Diözesanratsvorsitzende Karlies Abmeier. Man habe Kerstin Claus deshalb gebeten, den (Erz-)Bistümern die Unterstützung ihres Teams anzubieten, zu vermitteln, fachlich zu beraten und den notwendigen Gesprächsprozess zu moderieren.
Manche Beobachter der aktuellen Entwicklungen in Ostdeutschland fragen sich unterdessen, ob die Probleme womöglich auf grundsätzliche Schwächen der Gemeinsamen Erklärung hindeuten. Der ehemalige Leiter des Berliner Canisiuskollegs, Jesuitenpater Klaus Mertes, hatte bereits 2020 bei der Vorstellung der Erklärung darauf hingewiesen, dass die Aufarbeitung nur gelingen könnte, wenn die Umsetzung nicht am guten Willen der jeweiligen Bischöfe hänge.
Eine unabhängige Aufarbeitung könne es nur geben, wenn die Bischöfe und Ordensoberen Macht und Kontrolle komplett an eine wirklich von kirchlichen Strukturen unabhängige Kommission abgäben, schrieb er damals in der „Herder Korrespondenz“.

Von Dorothee Wanzek