Renovierung der St. Annenkapelle
Ein Kraftwerk für die Seele
Die gotische St. Annenkapelle im Kreuzgang des Hildesheimer Mariendoms ist nach der Sanierung wiedereröffnet worden. Bewusst zeigt das kleine Gotteshaus auch im renovierten Zustand die Spuren des Alters.
Mit ihren schlanken Stützpfeilern strebt sie selbstbewusst nach oben, im Innern ist sie klar gegliedert und lichtdurchflutet. Ein Ort der Andacht und des Gedenkens. Der Kreuzgang des Mariendoms mit der gotischen St. Annenkapelle ist ein Anziehungspunkt für Besucherinnen und Besucher. Für Weihbischof Heinz-Günter Bongartz ist das architektonische Kleinod der zweitschönste Platz – nach dem Petersdom in Rom, sagt er. „Die Menschen, die den Dom und den Tausendjährigen Rosenstock besuchen, werden noch einmal ruhiger und nachdenklicher, wenn sie hierher zur Kapelle des Annenfriedhofs kommen, das beobachte ich oft.“
Nun ist die St. Annenkapelle nach der Sanierung wiedereröffnet worden. Ein finanzieller Kraftakt von 145 000 Euro, den Großteil hat der Hildesheimer Dombauverein mit 100 000 Euro aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden geschultert, die restliche Summe steuerte das Bistum bei. „Eine Stadt braucht Orte, die in die Höhe streben, Orte, an denen die Seele ein Dach bekommt. Das gilt für alle Menschen, unabhängig von ihrer religiösen Einstellung“, meint Bongartz.
Ein Schmuckstück sakraler Architektur
Das Mauerwerk aus hellem Sandstein wurde gereinigt und von Algen und Moos befreit, doch es trägt auch nach der Sanierung bewusst die Spuren des Alters, rund 700 Jahre Geschichte lassen sich nicht einfach abwaschen. Die kleine Totenkapelle gehört zu den ers-ten hochgotischen Bauwerken in Hildesheim, Bischof Otto II. ließ sie 1321 zu Ehren der heiligen Anna, der Mutter der Gottesmutter Maria, errichten. Mit ihrem scheinbar schwerelos aufragenden Mauerwerk erinnert die Annenkapelle an die großen gotischen Kathedralbauten in Amiens und Köln und gilt daher als „Schmuckstück“ und „Juwel“ sakraler Architektur in Hildesheim.
Vom Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs blieb sie weitgehend verschont. Im Zuge der Generalsanierung des Hildesheimer Mariendoms in den Jahren 2010 bis 2014 hatte man den Bereich im Kreuzgang aus finanziellen Erwägungen zunächst ausgespart, inzwischen wurde der Friedhof saniert und nun konnte auch die Kapelle instandgesetzt werden, ein „kleines Kraftwerk“ für das Seelenheil und ein Erinnerungsort, den sich jede Generation neu erschließen könne, schreibt der Hildesheimer Kunsthistoriker Christian Scholl.
Zum zehnjährigen Bestehen des Dombauvereins im Jahr 2019 begannen die ersten Voruntersuchungen zum Sanierungsprojekt der Friedhofskapelle. „Der Dom, der Kreuzgang und die Annenkapelle gehören zum kulturellen Gedächtnis und zur Identität dieser Stadt, deshalb engagieren wir uns hier“, betont der stellvertretende Vorsitzende des Dombauvereins Jens Mahnken und verweist auf das bürgerschaftliche Engagement des Vereins, der verschiedene Projekte rund um den Dom unterstützt, darunter Konzerte, Ausstellungen, Theateraufführungen und weitere Angebote zur Kulturvermittlung.
Kapelle ist Teil des Weltkulturerbes
Die gotische Annenkapelle im doppelstöckigen romanischen Kreuzgang zählt wie der Dom mit dem Domschatz und St. Michaelis zum Unesco-Weltkulturerbe. Dass das Domareal auch ästhetisch eine Einheit bildet, gehört zum Sanierungskonzept. Im Innern der zierlichen Kapelle mit ihren neun schlanken Spitzbogenfenstern wurden die Risse in der Decke repariert.
Auch den Fußboden hat man erneuert, er ist aus hellem Sandstein und im gleichen Farbton gehalten wie im Dom und im angrenzenden Dommuseum. Ein zartes Lichtband konturiert den Boden und sorgt für eigene Akzente im Raum, auch die Skulptur der Muttergottes mit dem Jesuskind aus dem späten 13. Jahrhundert, die ursprünglich in der Hildesheimer Heilig-Kreuz-Kirche ihren Platz hatte und etwas älter ist als die Annenkapelle selbst, wird durch die dezente Lichtregie neu in Szene gesetzt. „Die kleine Kapelle soll wie eine Laterne auf dem Friedhof leuchten. Als Zeichen der Hoffnung und Zuversicht in einer Welt, die auseinanderfällt, das gilt für den politischen Bereich ebenso wie für die Kirche“, bemerkt Weihbischof Heinz-Günter Bongartz, der zum Vorstand des Dombauvereins gehört. Und er verweist auf die drei farbigen Schlusssteine im Gewölbe, in denen Phönix, Pelikan und Löwe dargestellt sind, die christlichen Symbole für Barmherzigkeit und Auferstehung.
Das Flachrelief mit der Anna Selbdritt-Figurengruppe am Tympanon, dem Giebelfeld über dem spitzbogigen Eingangsportal, zeigt die heilige Anna, ihre Tochter Maria und ihren Enkel, das Jesuskind, das hier seine Mutter krönt. Die modellierten Wasserspeier, die oben am Dachrand angebracht sind, sollten ursprünglich das Böse abwenden. Die dämonischen Figuren konnten teils nicht rekonstruiert werden, dazu fehlen die Original-Vorlagen. Wie auch immer sie ausgesehen haben – als Fragmente bleiben sie erhalten und erinnern als steinerne Zeugen daran, wie verletzlich die Welt ist.
Karin Dzionara
Broschüre über Baugeschichte
Aus Anlass der Sanierung hat der Dombauverein eine Broschüre zur Bau- und Kunstgeschichte herausgegeben: „Die Annenkapelle im Hildesheimer Domkreuzgang“, Autor ist der Hildesheimer Kunsthistoriker Christian Scholl. Der informative Band (80 Seiten) mit zahlreichen Abbildungen ist im Gerstenberg Verlag erschienen und für 9,95 Euro im Domshop erhältlich.