Stolperstein für katholische Jüdin Annemarie Schierz

Eine Frau mit Rückgrat

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Die katholische Jüdin Annemarie Schierz wäre am 15. August 100 Jahre alt geworden, fiel aber bereits 1943 der Judenvernichtung der Nationalsozialisten zum Opfer. In ihrem Wohnort Horka wird die Erinnerung an sie wachgehalten.

Eva-Maria Elle zeigt Fotos von Annemarie und Georg Schierz. | Fotos: Andreas Kirschke

Seit 2008 stellt die Horkaerin Eva-Maria Elle Nachforschungen über Annemarie Schierz an. Die ehemalige Gymnasiallehrerin ist entfernt mit den Adoptiveltern  der katholischen Jüdin verwandt, für die Gunter Demnig im Rahmen seines Stolperstein-Kunst- und Erinnerungsprojektes vor vier Jahren den ersten Stolperstein in sorbischer Sprache verlegt hat – vor ihrem Geburtshaus. Dort wohnt heute Eva-Maria Elle. 
Das meiste, was sie über Annemarie Schierz in Erfahrung bringen konnte, weiß sie von ihrem Vater, der wiederum die Erinnerungen seines Vaters aufgezeichnet hat.

 
Verbunden mit zwei Lebenswelten
Annemaries Mutter Gertrude stammt aus der jüdischen Familie Kreidl, die in Dresden ein Bekleidungsgeschäft betrieb. Als sie mit 17 Jahren ein uneheliches Kind erwartete, wurde sie, um der Schmach zu entgehen, die damals noch mit unehelichen Schwangerschaften verbunden war, zu guten Bekannten der Familie nach Horka geschickt. Dort, bei den Geschwistern Georg und Maria Schierz, brachte sie Tochter Annemarie zur Welt und ließ sie dort auch zurück. 1925 konnte  das Geschwisterpaar das Mädchen adoptieren. Der Gemeinderat von Horka hatte sich zunächst dagegen gesträubt. Die Adoptiveltern mussten sich schriftlich dazu verpflichten, sie sorbisch und katholisch zu erziehen.
Annemarie Schierz fühlte sich beiden Lebenswelten verbunden, weiß Eva-Maria Elle: Sie trug sorbisch-katholische Tracht, wurde getauft und gefirmt und nahm an sorbischen Festen und Traditionen teil. Ihr jüdischen Wurzeln wurden ihr bewusst, wenn sie ihre Großeltern in Dresden besuchte. Bei ihrer Firmung bekannte sie sich nicht nur zum katholischen Glauben, sondern mit einem Firmnamen aus dem Alten Testament, Esther, auch zu ihren jüdischen Wurzeln.
Nach ihrem Schulabschluss 1933 ging sie bei Bauern in umliegenden Dörfern in Stellung, doch zunehmend wurde das Leben in Horka für die Jüdin schwierig. Ihre Unterschrift bei der so genannten „Nichtarier-Erklärung“ lenkte die Gestapo auf sie. Gerüchte über sie wurden angeheizt, ihr Adoptivvater wurde immer wieder verhört.
Annemarie suchte sich Anstellungen in Dresden und in Kamenz. Als Jüdin wurde es für sie zusehends schwerer. Sie durfte nicht mehr an Gottesdiensten teilnehmen, keine Sakramente mehr empfangen. Franziskanerpater Lucius Teichmann widersetzt sich dem Verbot und bringt ihr im Geheimen die Kommunion. In regelmäßigen Abständen muss sie sich im Dresdner Polizeipräsidium oder bei der Gestapo melden. Ihre Adoptivmutter begleitet sie jedesmal, bis zum 6. August 1942. Nach diesem Verhör wird sie verhaftet. Maria Schierz kämpft lange um ihre Freilassung, doch vergeblich. Annemaries Spur hat sich verloren.
Das Amtsgericht Dresden legte den 1. Juli 1943 als ihr Todesdatum fest.
 
Würde und Rechte jedes Menschen verteidigen
Eva-Maria Elle sammelt alles, was sie über Annemarie Schierz finden kann. Sie ist dankbar für weitere Hinweise von Zeitzeugen oder deren Nachfahren, die Fotos, Briefe, Dokumente oder Erinnerungen beisteuern können. Dass die jüdische Katholikin nicht vergessen wird, ist ihr ein großes Anliegen. Annemarie Schierz kann jungen Menschen ein Vorbild darin sein, Rückgrat zu zeigen, meint sie. Ihr Schicksal ist für sie eine dringliche Mahnung: Jeder Mensch hat Persönlichkeit und Würde, jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung und freie Entfaltung. Bei der Gedenkfeier auf ihrem Hof wollte Eva-Maria Elle am 15. August besonders dafür beten, dass dies nicht wieder in Vergessenheit gerät. Im Anschluss an eine Gedenkstunde mit Nora Goldenbogen, der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Dresden, und dem dortigen Rabbiner Alexander Nachama fand in der Crostwitzer Pfarrkirche ein Gedenkgottesdienst statt.
 
Der Stolperstein für Annemarie Schierz in Horka.


Von Andreas Kirschke