Kirchenmusik in Görlitz

Eine Orgel voller Sonnen

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Reinhard Seeliger ist Kirchenmusiker in Görlitz. Wie viele seiner Zunft leidet auch er unter den Corona-bedingten Einschränkungen. Die Liebe zu seinem „Hausinstrument“, der Görlitzer Sonnenorgel, ist ungebrochen.

Reinhard Seeliger spielt regelmäßig an der Görlitzer Sonnenorgel in der Peterskirche.    Foto: Andreas Kirschke

 

In Corona-Zeiten Kirchenmusiker zu sein, „das zehrt an der Substanz. Für die Seele ist es eine endlose Geduldsprobe“, sagt Kirchenmusikdirektor und Orgelsachverständiger Reinhard Seeliger (60). Seine Arbeit ist seit Ende März stark eingeschränkt: Alle Proben mit dem 70-köpfigen Bach-Chor und dem 60-köpfigen Kirchenchor der Innenstadt-Gemeinde entfallen. „Mit dem Abstands-Gebot von drei Metern zwischen den Sängern ist Chor-Arbeit faktisch nicht möglich“, meint Reinhard Seeliger. „Den Sängern fehlt beim Singen der Kontakt zueinander. Ich als Chorleiter höre die Sänger nur schlecht im Ganzen. Beim Proben mit großen Abständen bräuchte ich das gesamte Kirchenschiff oder große Flächen im Freien. Das ist nicht sinnvoll.“
Gerade vielen älteren Mitgliedern fehlt der Chor. Sie vermissen den Gesang und die Gemeinschaft. Ihnen fehlt das Trainieren der Stimme Woche für Woche. „Ohne Proben droht uns die Qualität der Stimmen verloren zu gehen“, meint Reinhard Seelinger. „Gerade Chöre bereichern unser Gemeindeleben in den Kirchen und die Kulturlandschaft. Sie fördern und sensibilisieren unser Musikempfinden. Sie stärken die Gemeinschaft und die Freude am Singen. All das droht zu verschwinden.“

Eine Chor-Probe ist nicht zu ersetzen
Eigentlich sollte der Bach-Chor im Frühjahr ein Oratorium von Carl Loewe aufführen. Orchester, Solisten, Hotel und Sponsoren waren bereits organisiert. Doch dann kam Corona…. Die beiden Termine in Görlitz und im polnischen Szczecin fielen aus, und auch die für September geplanten Nachhol-Termine mussten inzwischen abgesagt werden. Für den 18. Juli war außerdem eine Aufführung des Oratoriums „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn geplant. Auch dieser Termin wurde gestrichen. Die Bach-Woche vom 30. September bis zum 4. Oktober steht noch auf dem Plan. Aber wie soll das gehen ohne Proben.
Manche Chor-Mitglieder üben jetzt unentwegt und geduldig zu Hause. Reinhard Seeliger hat dafür Noten verteilt. Doch eine richtige Chor-Probe ist auch durch das beste „Home-Training“ nicht zu ersetzen. Dennoch sieht er erste Fortschritte. Bis Mitte Mai durften strikt gar keine Konzerte stattfinden. Seit Pfingsten sind wieder Orgelkonzerte möglich – zum Beispiel die Andacht „Orgel Punkt 12“ sonntags, dienstags und donnerstags. Bläserchöre dürfen im Gottesdienst wieder mitwirken. Der Kammerchor der Innenstadt-Gemeinde probt derzeit in etwas kleinerer Besetzung.
Seit 1990 ist Reinhard Seeliger Kantor der Peterskirche. 1985 – nach dem Studium – war er als Assistent des Direktors der Kirchenmusikschule nach Görlitz gekommen. Seit 1996 leitet er außerdem den Bach-Chor und seit 1997 die alle zwei Jahre stattfindende Görlitzer Bach-Woche. 1994 bis 2008 war er Rektor der Hochschule für Kirchenmusik in Görlitz. Er selbst nutzt die Corona-Zeit intensiv, um etwa die liegengebliebene unbeantwortete Korrespondenz zu erledigen. Er ordnet und inventarisiert die Noten und er übt an seinem „Haus-Instrument“, der Görlitzer Sonnenorgel.
Bereits als Kind kam Reinhard Seeliger zur Musik: Mit sechs Jahren lernte er Klavier. Mit 13 Jahren durfte er in seinem Heimatort Ruppersdorf (Kreis Lobenstein in Thüringen) erstmals die Orgel in der Dorfkirche spielen. Mit 15 Jahren rief er in seinem Heimatort einen Kinderchor ins Leben. Er führte ihn nach dem Armee-Dienst weiter. Aus dem Kinderchor reifte ein gemischter Jugendchor heran. In der Hochschule für Musik in Weimar studierte Reinhard Seeliger Kirchenmusik. Mit über 30 Fächern gehört das fünfjährige Studium zu den vielfältigsten Studien überhaupt. Die Fächer reichen von Gesellschaftswissenschaft und Musikgeschichte über die Instrumentenkunde bis hin zu Gesang, Chorleitung, Orgel- und Klavierspiel.

Seinerzeit die größte Orgel Schlesiens
Als er 1985 nach Görlitz kam, faszinierte ihn sofort die Sonnenorgel in der Peterskirche. 1703 hatten Eugenio Casparini und sein Sohn das Instrument nach sechsjähriger Bauzeit vollendet. „Sie verfügte über 57 Register auf drei Manualen und Pedal und war damit die damals größte Orgel Schlesiens“, sagt Reinhard Seeliger. „Das sehr beeindruckende – 14,40 Meter hohe und 10,30 Meter breite – Orgelgehäuse, das Werk des einheimischen Künstlers Johann Conrad Büchau, wurde wegen seiner außergewöhnlichen architektonischen Gestalt international bekannt. Büchau verteilte über den gesamten Prospekt siebzehn sogenannte Sonnen, in denen er um goldene Sonnengesichter strahlenförmig jeweils zwölf klingende und vier stumme Pfeifen anordnete, was dem Instrument den Namen Sonnenorgel einbrachte.“

Die Görlitzer Sonnenorgel fasziniert Besucher aus aller Welt.    Foto: imago images/Rolf Zöllner

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fanden verschiedenste kleine und große Reparaturen an der Orgel statt. 1926 bis 1928 baute die Firma Sauer aus Frankfurt / Oder eine elektropneumatische Orgel (mit Taschenladen, einem freistehenden Spieltisch sowie 89 Registern auf vier Manualen und Pedal) in das Gehäuse Büchaus ein. 1979 wurde es – im Zuge einer umfangreichen Innensanierung der Peterskirche – ausgebaut. „Die Kirche sollte eine neue Orgel erhalten. Und das im historischen Gehäuse“, sagt Reinhard Seeliger. „380 000 DDR-Mark hatte dafür die Peterskirchengemeinde gespart. Gebraucht wurden 450 000 DDR-Mark. Doch dann kam die Währungsunion. „Die Kirchengemeinde hatte über Nacht jetzt 190 000 D-Mark zur Verfügung. Kosten sollte die neue Orgel jedoch drei Millionen D-Mark“, erinnert sich Reinhard Seeliger. Gemeinsam mit Interessierten rief er im Jahr 1991 den Förderkreis Görlitzer Sonnenorgel ins Leben. Bis heute ist er dessen Vorsitzender. Dem Verein gehören rund 80 Mitglieder aus dem In- und Ausland an. Sie eint die Wertschätzung und Verbundenheit mit der Sonnenorgel. 1,6 Millionen Euro konnten Förderkreis und Kirchengemeinde größtenteils aus Spenden für den Neubau der Orgel organisieren. „Wir haben 17 Jahre gesammelt. 2006 war die Orgel fertiggestellt. 2008 war sie fertig finanziert“, sagt Reinhard Seeliger.
Er selbst hat bei der Intonation der Orgel mit dem Chef und Intonateur der Mathis Orgelbau AG aus Näfels (Schweiz) viele Wochen mitgewirkt. Auch an der Finanzierung hat er großen Anteil: Weltweit spielte Reinhard Seeliger für den Neubau der Sonnenorgel über 3000 Benefizkonzerte, um Spenden einzuwerben. Er produzierte CDs und eine DVD zugunsten der Orgel.
Heute erfreut die Sonnenorgel Besucher aus aller Welt. Von April bis Oktober kommen zum „Orgel Punkt 12“ zu jeder Andacht mindestens 100 Zuhörer. Oft spielt dann Reinhard Seeliger selbst die Sonnenorgel. Freude, Demut, Gnade und Dankbarkeit empfindet er dabei. Ihn fasziniert die Vielfalt der Klangfarben dieses besonderen Instrumentes. Die Orgel kann sowohl sehr leise als auch sehr kraftvoll erklingen. Ihr Klangvolumen füllt die gesamte Peterskirche aus. Vor allem wenn er auf anderen Orgeln spielt,  spürt er den immensen Wert der heimischen Görlitzer Sonnenorgel. Für deren Erhalt will er sich auch künftig einsetzen.
Von November bis März jeden Sonn- und Feiertag sowie von April bis Oktober jeden Sonntag, Dienstag, Donnerstag, Feiertag erklingt um 12 Uhr die Sonnenorgel für 45 Minuten in der Peterskirche. Immer wieder finden auch Orgel-Andachten und –Konzerte statt. Spenden für den Erhalt der Sonnenorgel sind weiter willkommen.

Kontakt: Freundeskreis Görlitzer Sonnenorgel, Reinhard Seeliger, Postfach 30 01 08, 02806 Görlitz; Telefon: 01 60/5 85 4 4 19; E-Mail r.seeliger@innenstadtgemeinde-goerlitz.info; Internet:
www.sonnenorgel.de

Von Andreas Kirschke