Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel
Einfach nur gigantisch
Eine Sammlung der Superlative: Die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel ist eine Schatzkammer und genießt mit ihren unendlichen Bücherregalen internationalen Ruf. Die Menschen früher sprachen voller Ehrfurcht von einem achten Weltwunder. Vor 450 Jahren wurde sie gegründet.
Im Jahr 1572 erließ Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel für seine Büchersammlung eine „Liberey-Ordnung“, die unter anderem festlegte, dass der Bibliothekar mindestens einmal pro Woche die Bücher zu putzen habe. Des Herzogs handschriftliche Anweisungen gelten als Gründungsdokument der Wolfenbütteler Bibliothek. Sie verfügt über eine Quellensammlung von Weltruf, hütet eine der umfangreichsten Kollektionen mittelalterlicher Handschriften, besitzt die größte Sammlung von Luthers Druckschriften und weist eine der international bedeutendsten Kollektionen von Künstlerbüchern des 20. und 21. Jahrhunderts auf. Ihr Jubiläum feiert die Bibliothek mit zahlreichen Veranstaltungen. Ihr Höhepunkt ist die Sonderausstellung „Wir machen Bücher“.
Der Herzog hinterließ 30 000 Bücher
Präsentiert wird sie im 1886 eröffneten Hauptgebäude der Bibliothek. Benannt ist sie nach Herzog August dem Jüngeren (1579–1666). Der heutige Bibliotheksleiter Peter Burschel erklärt: „Als der Herzog 1666 hochbetagt starb, hinterließ er über 30 000 Bände mit 135 000 Schriften und über 2500 Manuskripte und damit ein Bücherhaus, das es an Größe und Bedeutung durchaus mit der Vatikanischen Bibliothek in Rom aufnehmen konnte.“ Die Büchersammlung von Herzog Julius befand sich zu dieser Zeit nicht in Wolfenbüttel, denn sie war 1618 der Bibliothek der Universität Helmstedt einverleibt worden. Nach deren Auflösung 1810 wurde sie an die Herzog August Bibliothek überwiesen.
Die fast vollständig erhaltene Büchersammlung Herzog Augusts residiert im Hauptgebäude der Bibliothek. In der imposanten Augsteerhalle türmen sich die zumeist in Pergament gebundenen Bücher an den vier Wänden bis in sieben Meter Höhe auf. Er hat seine Sammlung nach 20 Kategorien geordnet. Deren erste sind nun im Augusteerhalle untergebracht. Die theologischen Schriften stehen am Anfang, gefolgt von den Fachgebieten Geschichte, Mathematik und Ökonomie. Gemäß der Ordnungsvorstellung Herzog Augusts sind sie innerhalb der Kategorien nach Maßen sortiert: Die größten Bücher stehen unten, die kleinsten ganz oben.
In diese Ehrfurcht gebietende Kulisse sind die ersten zwölf Vitrinen der Sonderschau „Wir machen Bücher“ eingebettet. Sie widmet sich der Kultur des Buches und will zeigen, dass die Bibliothek mehr ist als Speicher und Bühne des Wissens, nämlich die Entstehung neuer Bücher bedingt und befördert. Kurator Hole Rößler führt aus: „Die Geschichte der Bibliothek ist die Geschichte der Bücher, die aus ihr hervorgegangen sind.“ Das belegt schon das erste Exponat: die von Herzog August verfasste „Evangelische Kirchen Harmonie“ (1646). Für diese Zusammenfassung der vier Evangelien nutzte er viele Werke seiner Bibliothek. Die wohl berühmteste Frucht, die aus Lesestudien in der Bibliothek hervorging, ist Gotthold Ephraim Lessings Drama „Nathan der Weise“ (1779). Lessing war damals Leiter der Herzog August Bibliothek.
Beim weiteren Rundgang, der in die Magazinräume und den Tresor führt, entdecken wir einzigartige Preziosen. Etwa das um 1188 im Benediktinerkloster Helmarshausen geschaffene Evangeliar Heinrichs des Löwen und Mathildes von England. Das mit außerordentlich qualitätvollen ganzseitigen Miniaturen ausgemalte und ungewöhnlich reichhaltig verzierten Textseiten ausgestattete Evangeliar gehört zu den Höhepunkten mittelalterlicher Buchmalerei – und ist eines der teuersten Bücher der Welt. Der Bund, Niedersachsen, Bayern, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie private Spender ersteigerten es 1983 auf einer Auktion in London. Aufgeschlagen sind die Miniaturen der Geißelung und Kreuzigung Christi.
Im Psalter hat Luther Notizen gemacht
Die Herzöge Julius und August waren Lutheraner. Das spiegelt sich in der Sammlung. August erwarb 1640 das Exemplar eines Psalters, den Luther 1513 anlässlich seiner Psalmenvorlesungen für sich und seine Studenten drucken ließ. Beim Wolfenbütteler Psalter handelt es sich um Luthers persönliches Exemplar, auf das er seine Auslegungen des Bibeltextes notiert hat. Burschel kommentiert: „Sein Wert für die Rekonstruktion der Entwicklung Luthers zum Reformator ist kaum zu überschätzen.“ Aber auch Kuriositäten sind ausgestellt. Etwa das Tintenfass, mit dem Luther auf der Wartburg nach dem Teufel geworfen haben soll. Oder die kleinformatige „Ehebrecherbibel“, 1731 in der Waisenhausdruckerei von Halle an der Saale hergestellt. Auf Seite 102 lesen wir das verblüffende Gebot: „Du solt ehebrechen.“ Die Ehebrecherbibel ist eine Rarität, da sie nach Entdeckung des Druckfehlers schnellstens aus dem Verkehr gezogen wurde. Nicht weit von ihr liegt „Der Edelstein“, 1461 aus einer Bamberger Druckerei hervorgegangen. Bei dieser Fabelsammlung handelt es sich um eine bibliophile Kostbarkeit, wie Hole Rößler erklärt: „Nur in Wolfenbüttel gibt es ein vollständiges Exemplar dieses ersten gedruckten Buches in deutscher Sprache.“
Der Rundgang endet im Saal der Malerbücher. Sie sind seit den 1950er-Jahren Sammelgebiet der Bibliothek. Die Kollektion umfasst inzwischen mehrere Tausend Exemplare von Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts, darunter Pablo Picasso und Marc Chagall. Begründer dieser Sondersammlung war Erhart Kästner, der die Bibliothek ab 1950 leitete: „Ich wollte dem fürstlichen, luxuriösen alten Bestand mit etwas Ähnlichem, gegenwärtig Modernem“ antworten. Eine Auswahl dieser Malerbücher war 1959 auf der documenta II zu sehen und trug wesentlich zur Bekanntheit der bis dahin wenig beachteten Herzog August Bibliothek bei. Sie versteht sich heute als internationale Forschungs- und Studienstätte für europäische Kulturgeschichte, die Tagungen veranstaltet, Stipendien vergibt, sich selbst erforscht, Schriften im eigenen Verlag veröffentlicht – und die Produktion von Künstlerbüchern fördert, indem sie Preise vergibt.
Bis 3. Juli im Hauptgebäude der Herzog August Bibliothek, Internet: www.hab.de
Veit-Mario Thiede
Lessinghaus, Zeughaus und ein Magazin
Neben dem Haupthaus der Bibliothek gehören noch drei weitere Gebäude zum Museumskomplex.
Der Bibliotheksdirektor und Schriftsteller Gottfried Ephraim Lessing bezog mit seiner Familie 1777 ein dreiflügeliges, gelb verputztes Rokokoschlösschen, das heutige Lessinghaus. In ihm starb sein Sohn kurz nach dem Einzug und vierzehn Tage später seine Frau. Lessing widmete ihr Sterbezimmer zu seinem Arbeitsraum um. Hier schrieb er die „Emilia Galotti“ und „Nathan der Weise“. Die museal eingerichteten Räume des Schlösschens dokumentieren Lessings Zeit in Wolfenbüttel, die von 1770 bis 1781 währte.
Das älteste Bauwerk des Bibliotheksquartiers ist das 1613 bis 1619 errichtete Zeughaus. Das rosafarben verputzte, langgestreckte Gebäude diente einst als Waffenarsenal, Kaserne und Depot. Der Umbau für die Bibliothek erfolgte von 1976 bis 1981. In der imposanten Pfeilerhalle sind nun die Orts- und Fernleihe sowie die Freihandbibliothek untergebracht. Zu ihnen gesellen sich der Lesesaal und die Cafeteria.
Das jüngste Gebäude ist das 2016 vollendete Magazin. Das trutzig wirkende, wie ein mächtiger Quader aussehende Gebäude ist mit Natursteinplatten verkleidet. Ihre Struktur symbolisiert die dichten Reihen der pergamentgebundenen Bücher Herzog Augustes, die in der Augusteerhalle des Haupthauses präsentiert werden. Das Magazin kann mehr als 500 000 Bände aufnehmen.
Bibliothek mit zwei Gründungsvätern
Die Wolfenbütteler Bibliothek hat zwei Gründerväter. Herzog Julius (hier ein Porträt im Residenzschloss) war für eine geistliche Laufbahn vorgesehen. Nach dem Tod seiner beiden älteren Brüder konnte sich sein Vater – Herzog Heinrich der Jüngere – lange nicht damit abfinden, dass Julius sein Nachfolger wird. Heinrich hing nämlich dem katholischen Glauben an und kannte die Sympathien seines Sohnes für das Luthertum. Und tatsächlich: Gleich nach seinem Regierungsantritt 1568 führte er die Reformation im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel ein. Seine Büchersammlung wuchs nun stark an, weil er aus den Klöstern und Stiften „papistische“ Manuskripte und Drucke einziehen und nach Wolfenbüttel verfrachten ließ. Als Ersatz stellte Julius den Klöstern und Stiften Lutherbibeln und reformatorische Schriften zu.
Herzog August der Jüngere (hier sein Denkmal auf dem Stadtmarkt von Wolfenbüttel) führte lange Jahre ein beschauliches Dasein in seinem kleinem Herrschaftsgebiet Hitzacker, wo er sich dem Sammeln von Büchern widmete. Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel regierte er seit 1634. Damals wütete der Dreißigjährige Krieg. Seine Büchersammlung wuchs in der Kriegs- und Nachkriegszeit mächtig an, denn die allerorten herrschende Not führte zu großen und kleinen Bibliotheksverkäufen. Damit stieg die Zahl der angebotenen Bücher stark an, sodass sie spottbillig zu haben waren.
Veit-Mario Thiede