Interview zum „Jahr der Familie“

Einladen statt ausgrenzen

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Die vielfältigen Herausforderungen familiären Zusammenlebens will das Bistum während des „Jahres der Familie“ in den Mittelpunkt stellen. Bischof Timmerevers und Familienseelsorgerin Claudia Leide dazu im Interview.

Bischof Timmerevers im Gespräch mit Claudia Leide über das „Jahr der Familie“.    Foto: Kim Samuel Schwope

 

Herr Bischof, Papst Franziskus ruft am 19. März ein „Jahr der Familie“ aus. Was ist sein Anliegen und warum wollen Sie es in Ihrem Bistum aufgreifen?

Timmerevers: Papst Franziskus hat ein Herz für die Wirklichkeit unserer Welt. Er wendet sich den Themen zu, die im gesellschaftlichen und persönlichen Leben zunehmend von Bedeutung sind. In seinem Schreiben „Fratelli tutti“ stellt er der Welt die ökologischen und wirtschaftsethischen Herausforderungen vor Augen, in „Amoris Laetiia“ nimmt er die Fragestellungen in Blick, die im Bereich von Ehe und Familie heute wichtig sind. Der letzte Familienreport des Bundesfamilienministeriums von 2020 gibt Auskunft darüber, dass knapp 80 Prozent der Menschen auf die Frage, was das Wichtigste in ihrem Leben ist, mit „die Familie“ antworten. Mit seinem Schreiben „Amoris Laetitia“ als auch mit seiner jetzigen Initiative, ein „Jahr der Familie“ auszurufen, trifft Papst Franziskus auf einen Nerv unserer Zeit. Darüber hinaus sieht er die Kirche selbst in ihrer Grundverfassung familiär angelegt: er spricht von Kirche als „Familienfamilie“ (AL 87). Ihm ist es ein großes Anliegen, dass dieser familiäre Charakter auch vor Ort erlebbar bleibt, nicht in Form der Abgeschlossenheit, sondern in der Weise der Öffnung und des Zugehens auf andere Menschen, denn gemeinschaftliche Beziehungen sind für alle Menschen wertvoll, lebensnotwendig! Durch die Erfahrungen der Pandemie in den letzten Monaten wurde Papst Franziskus vielleicht verstärkt dazu inspiriert, uns allen die zentrale Rolle der Familie neu deutlich zu machen. Die Familie ist für das Leben einer Gesellschaft systemrelevant! Durch die Einschränkungen bei gottesdienstlichen Feiern in unseren Kirchen, sind uns die Bedeutung und die Chancen als Hauskirche neu ins Bewusstsein gerückt. All dies spielt zusammen, wenn Franziskus die Familie mit dem „Jahr der Familie“ ausdrücklich in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rückt. Sein Anliegen teile ich und greife es gerne auch für unser Bistum auf.

Anlass ist der 5. Jahrestag des Erscheinens von „Amoris laetitia“. Worin sehen Sie den Kern dieses Schreibens und wie schätzen Sie ein, ist es im Bistum rezipiert worden?

Timmerevers: Bevor ich Bischof wurde, war ich elf Jahre Pfarrer in einer ländlichen Gemeinde des Oldenburger Münsterlandes mit etwa 7000 Katholiken. Durch meine eigene Großfamilie –  wir waren sechs Geschwister –, durch den Freundes- und Bekanntenkreis sind mir vielfältigen Herausforderungen und komplexen Lebenssituationen, in denen Familien heute stehen, nicht verborgen geblieben! Papst Franziskus schreibt ja genau darüber in „Amoris Laetitia“. Mich haben seine wertschätzende Herangehensweise und sein Blick für den konkreten Menschen sehr berührt. Er stellt die Wirklichkeit über die Idee und würdigt das Bemühen der Menschen, die ja in so vielen schwierigen Lebenslagen ihr Bestes geben. Papst Franziskus bemerkt selbstkritisch, unsere Pastoral habe in einigen Punkten eine ausgrenzende Wirkung gehabt. Hier nimmt nun der Papst eine Korrektur vor, nicht ausgrenzen, einladen, begleiten und integrieren. In der Begleitung der Menschen und der Paare ist die Gabe des Abwägens und Unterscheidung einzubringen, und zwar in einer Weise, dass die Menschen selbst ihre Gewissensentscheidung treffen können. Einladen, begleiten, unterscheiden, aber immer mit dem Ziel der Eingliederung, sind mir sehr bedeutsam geworden und haben mich selbst in dieser pastoralen Haltung bestärkt. Das gilt nicht nur für den Bereich der Familie, mir scheint, das ist die Grundhaltung heutiger Pastoral allen Menschen gegenüber.
Im Jahr 2018 haben wir unserem Bistum in Zusammenarbeit mit der Familienpastoral und der Personalabteilung zunächst die Hauptamtlichen zu einem Weiterbildungstag zu „Amoris Laetitia“ eingeladen. Dieser Studientag war sehr intensiv, spannend und erkenntnisreich. „Amoris Laetitia“ eröffnet uns einen Paradigmenwechsel in der Pastoral. Das hat uns veranlasst, im Jahr 2019 in allen Pastoralkonferenzen einen Vertiefungstag anzubieten und zu gestalten. So war es mir möglich, zum einen in der regionalen Unterschiedlichkeit über „Amoris Laetitia“ in die gemeinsame Auseinandersetzung zu kommen und zum anderen auch jeweils das Anliegen einer einladenden Pastoral zu vertiefen. Mein Eindruck ist, die Beschäftigung, die Akzeptanz von „Amoris Laetitia“ verändert unsere pastorale Grundhaltung. Ich denke und hoffe, dass „Amoris Laetitia“ ihre Wirkung in unserem Bistum entfaltet.

Frau Leide, Sie sind im Bistum zuständig für Familienpastoral. Was verbinden Sie mit dem „Jahr der Familie“?

Leide: Ich greife gerne das Stichwort der einladenden Pastoral auf. Sie gilt als Haltung ja für uns alle in der Kirche. Diese wird meist dann besonders relevant, wenn Menschen, Paare oder Familien kommen, die vielleicht in irgendeiner Weise „anders“ sind, als wir es gewohnt sind. Vor kurzem habe ich einen Onlineaustausch zum „Jahr der Familie“ mit jüngeren Hauptamtlichen im Bistum durchgeführt, die mir von sich aus sofort die Frage stellten: „Wen meinst du, wenn du von Familie sprichst?“ Gerade „Amoris Laetitia“ hat ja einer wirklichen Öffnung und Anerkennung der Vielfalt der familiaren Formen, denen wir heute in der Gesellschaft und auch in der Kirche begegnen, bedeutende Impulse gegeben. Es geht hier nicht, was manche befürchten, um ein Einknicken vor dem Zeitgeist, sondern im Gegenteil um einen neuen, tieferen Blick gerade aus dem Glauben heraus. Papst Franziskus lenkt den Blick auf den konkreten Menschen, auf die konkrete Familie und ihre Geschichte und geht davon aus, dass in dieser konkreten, unvollkommenen Wirklichkeit Gott da ist. Diese Bodenhaftung, so beschreibt er selbst sein Anliegen, schätze ich ungemein.
Das ist tatsächlich ein Wunsch, den ich für das „Jahr der Familie“ habe: dass wir alle eine solche Wertschätzung für konkrete Familien entwickeln und zwar in ihren verschiedensten Formen, auch mit ihren Brüchen und in ihren Schwierigkeiten. Noch mehr: dass Familien selbst sich nicht zuerst über ihre Defizite beschreiben, sondern die oben beschriebene Perspektive für sich einnehmen können. Dann ist alles gut, auch wenn nicht alles gut ist. Und von hier aus kann Wachstum und Entwicklung weitergehen.
Wichtig ist mir auch, dass wir Familie „am Leben entlang“ wahrnehmen: sie spielt von jung bis alt eine Rolle, gerade die Senioren haben oft so viel Herzblut in die Gemeinden vor Ort gegeben, auch in schwierigsten Zeiten. Davor habe ich großen Respekt. Für mich verbindet sich mit dem „Jahr der Familie“ daher eine entschiedene Option für die Familie. Damit meine ich, dass wir einmal bewusst durch die Brille von Familien unser Gemeindeleben, unsere Angebote, unsere Gottesdienste, unsere Sprache, unsere Erwartungen an sie usw. reflektieren. Passt das eigentlich? Ist das einladend? Wird eine Willkommenskultur bei uns spürbar? Durch was genau? Was soll Familie eigentlich (noch alles) einbringen? Was brauchen unsere Familien wirklich? Fragen wir die Familien selbst und nehmen ihre Antworten ernst. Ich weiß, dass da an vielen Orten in unserem Bistum schon sehr viel Gutes geschieht und Familie(n) im Blick sind. Hier schätze ich zum Beispiel auch die wirklich sehr gute Arbeit der Gemeindereferent/innen vor Ort ungemein. Wir können auf den verschiedenen Ebenen wie Bistum, Dekanat, Pfarrei nur voneinander lernen und uns gegenseitig unterstützen.   

Was können Sie schon über konkrete Aktivitäten im Laufe des Jahres auf Bistumsebene sagen? Was können Pfarreien und einzelne Familien tun?

Leide: In unserem Bistum ist derzeit schon viel los: Wir haben viele Angebote in der Fastenzeit, wir bewegen uns auf unser Bistumsjubiläum im Sommer zu, Corona hält uns nach wie vor in Atem. Da gilt es eher gut zu schauen, denn Familien haben gerade in Coronazeiten schon viel zu tun, um ihren Alltag und alles Anstehende zu bewältigen. Von daher scheint mir der gerade beschriebene andere Blick auf Familien auch ein wichtiges Tun. Dann wird erlebbar: Die Familien sind ja Subjekt, nicht Objekt in der Pastoral. Genau darum geht es.
Zugleich wird es sicherlich Akzente geben, wir planen zum Beispiel für den Herbst/Winter eine mehrteilige Reihe im Spannungsfeld Frau-Muttersein, Mann-Vatersein in Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpastoral. Wir bleiben hier bewusst im Onlineformat, damit wir auch in der Fläche des Bistums erreichbar sind: eine Chance, die uns durch Corona deutlich wurde. Es wird sicherlich auch Kontakt mit den Familienverbänden geben. Zudem gibt es viele Angebote für Paare und Familien vor Ort und auch im Bistum: Wer auf den Homepages der Pfarreien und auch der Bistumshomepage der Familienpastoral schaut, kann einen Blumenstrauß an Ideen finden, bei dem vielleicht etwas dabei ist, was passt und anspricht.
Ich selbst freue mich auf das Wochenende zu „Amoris Laetitia“, das Anfang Juni in Kooperation des Bildungsgutes Schmochtitz und der Familienpastoral durchgeführt wird, bewusst mit Kinderbetreuung. „Amoris Laetitia“ ist einfach toll, es enthält derart viele gute, inspirierende Anregungen zu Partnerschaft und Familie, dass ich manchmal denke, es wurde direkt in der Eheberatung verfasst. Diesen Schatz lohnt es sich wirklich zu heben, zumal auch die Sprache von Papst Franziskus so lebensnah und echt ist. Wenn ich etwas in diesem Jahr der Familie empfehlen dürfte, dann ist es, als Paar oder in Familienkreisen „Amoris Laetitia“ zu lesen, nicht alles, das Schreiben ist lang, aber die Kapitel, wo es konkret wird.

Herr Bischof, wir sprachen schon über die heutige Vielfalt an Familienmodellen. Ich nenne mal zwei, die aus katholischer Sicht mit Fragen verbunden sind: wiederverheiratete Geschiedene und gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Werden diese Themen eine Rolle spielen?

Timmerevers: Das Thema der wiederverheiratet geschiedenen Paare spricht Papst Franziskus ausdrücklich in „Amoris Laetitia“ an. Gerade hier rät er zu einer Haltung der Barmherzigkeit, nicht als Ausdruck von Beliebigkeit. Hier findet Papst Franziskus ganz starke Worte: die Barmherzigkeit ist der Tragebalken der Kirche (AL 310), die Kirche ist keine Zollstation, sondern das Vaterhaus, in dem für jeden Platz ist mit seinem mühevollen Leben. Ich versuche, mir diese Haltung zu eigen zu machen und so den Menschen in ihren ganz unterschiedlichen und komplexen Lebenssituationen zu begegnen. Das Ziel ist zu begleiten, unterscheiden, integrieren und Ausgrenzungen zu überwinden. Ich wiederhole gerne, dass auch das Unterscheiden dazugehört, doch ich sehe heute noch deutlicher, dass wir das Gewissen der Menschen nicht ersetzen können und dürfen. Ich vertraue auch darauf, dass sie inmitten schwieriger Situationen, auf die kein Schema mehr passt, so gut es ihnen möglich ist, ihr persönliches Unterscheidungsvermögen entwickeln (AL 37). Die Suchenden, Fragenden, Unsicheren und die sich mit unserer Kirche und ihrer Lehre schwertun, müssen ihren Platz inmitten unserer Kirche haben.
Im Blick auf die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften habe ich mich in letzter Zeit öfters geäußert. Ich meine, wir können hier nicht hinter den Stand der Humanwissenschaften zurück und unser Fokus sollte stärker auf den gelebten Werten liegen, die eine Partnerschaft erst in ihrer Qualität ausmachen. Verbindlichkeit, Treue, Fürsorge, Achtung, das Leben mit seinen Höhen und Tiefen miteinander teilen, spielen dabei eine wichtige Rolle. Wenn diese Werte von zwei Menschen gelebt werden, verdienen sie Hochachtung und Respekt. Wir können uns innerhalb der Kirche nicht davor verschließen, dass sich unser Bild und die Bedeutung von Sexualität weiterentwickeln muss.  Wir leben in geschichtlichen Kontexten und es zeigt sich heute deutlicher, dass Sexualität mehr Dimensionen innewohnen, als Fruchtbarkeit, die sich in Nachkommenschaft ausdrückt. Das ermöglicht neue Perspektiven auf die Zusammenhänge.
Solche Themen greife ich immer dann auf, wenn sie sich konkret stellen und werde das auch im Jahr der Familie tun. Beim synodalen Weg sind sie ausdrücklich gesetzt und wir setzen uns dort sehr intensiv und Gott sei Dank sehr konstruktiv damit auseinander. Ich hoffe, dass wir hier tatsächlich auch konkrete Schritte gehen werden. Dazu gehört auch, konkrete Segensformen für Paare zu finden, die sich lieben. Wir dürfen vertrauen, dass Gott uns auch in den Herausforderungen unserer Zeit Türen zeigt und uns weiterführt.

Frau Leide, coronabedingt haben Familien in den letzten Monaten viele neue Erfahrungen gemacht (Stichworte: Homeschooling, Homeoffice, Kontaktbeschränkung zu den Großeltern, einsames Sterben von Angehörigen, Familie als Hauskirche ….). Bietet das „Jahr der Familie“ die Gelegenheit, diese Erfahrungen zu reflektieren?

Leide: Die Reflexion zur Frage, was Corona mit Familien gemacht hat und macht, ist gesellschaftlich und kirchlich längst in vollem Gange. Manches kann auch erst mit etwas Abstand erfasst werden. Themen, wie die Identitätsentwicklung unserer Kinder und Jugendlichen jetzt gut im Blick bleibt, wie wir mit Sterben, Trauernden und alten Menschen umgegangen sind und umgehen, auch wie sich die Herausforderungen auf Alleinerziehende, Singles, Partnerschaften ausgewirkt haben und ja nach wie vor tun – es gibt eine sehr hohe Nachfrage an Paartherapien – werden uns noch lange begleiten. Als Kirche gut hinzuhören, was eventuell ein unterstützender Beitrag sein kann, ist wichtig. Es passt sehr gut, dass die ökumenische Woche des Lebens in diesem Jahr unter dem Leitwort „Sterben in Würde“ steht. Die Erfahrungen der Pandemie werden dort einen Widerhall finden. Der Auftakt findet in unserem Bistum am 19. April im Hygienemuseum statt und wird digital vermittelt. Am Tag zuvor, dem 18. April, wird es auf die Initiative des Bundespräsidenten hin ein bundesweites Gedenken an die Toten durch Corona geben. Wir werden das in ökumenischer Einheit aufgreifen und in unserem Bistum ein entsprechendes Zeichen setzen mit einer „Zeit der Klage – Raum für Hoffnung“ in offenen Kirchenräumen. Solche Angebote geben Gelegenheiten, auch Erfahrungen in der Familie zu reflektieren. Vielleicht auch kombiniert mit der Frage, was uns eigentlich als Familien durch diese Krisen und überhaupt getragen hat, was uns stärkt und ermutigt und auch, woran wir gewachsen sind.
Wenn mir etwas für uns als Kirche wie durch ein Brennglas deutlich wurde, dann ist es, dass wir in dieser Zeit eine Vorahnung bekommen haben, was wir in Zukunft brauchen werden, wenn vieles weggebrochen sein wird: Familien, Menschen, die selbst anfangen, dort wo sie sind und wie sie sind, ihren Glauben miteinander zu leben, sich auszutauschen, zu beten, zu feiern, digital oder analog oder nochmal anders. Das ist ungewohnt, fremd, geschieht mitunter scheu, holprig. Das macht nichts. Wichtig ist: das ist eine Form, Subjekt zu werden: Ich glaube! Wir glauben! Ich will die Dinge nicht gegen die Gemeinschaft zum Beispiel im Gottesdienst ausspielen, darum geht es nicht. Aber wenn dieser Samen bleibt und wächst, nicht ausgerissen, sondern gewürdigt und gepflegt wird, dann ahne ich hier Spuren und habe Hoffnung für eine Kirche von morgen.  

Zum Abschluss eine Bitte an Sie beide: Beenden Sie den Satz „Familie ist für mich ...“.

Timmerevers: Familie ist für mich… Familie hat mir die Quellen erschlossen, aus der ich heute zufrieden und glücklich lebe.

Leide: Familie ist für mich… meine Rettung: ich hebe gerne ab und sie sorgt auf abenteuerliche Weise dafür, dass ich die Bodenhaftung nicht verliere, Gott sei Dank, was wäre ich ohne sie?!

Fragen: Matthias Holluba