Anstoß 02/22

Erzähl doch mal von früher

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Als Kind, Jahrgang 1953, bin ich noch ohne Fernseher, Telefon, Computer und elektronisches Spielzeug und vieles mehr aufgewachsen – heute unvorstellbar.


Es gab das Radio und als Familie haben wir miteinander, vor allem an den langen und kalten Wintertagen, in der Küche gespielt. Die Küche war der einzige Raum, der beheizt war mit einem Kohleofen. Meine Mutter hat uns oft vorgelesen oder erzählt. Besonders aber beliebt war meine Oma, wenn sie da war, denn sie konnte gut und spannend und unterhaltsam erzählen. Und so ist mir noch ein Satz im Ohr, den wir ihr dann als Wunsch und Aufforderung sagten: „Oma, erzählt doch mal von früher!“
Sie erzählte dann gut und zumeist spannend von früheren Zeiten, wie sie ihre Kindheit erlebte, das Leben auf dem Lande, von der Heuernte, vom Kartoffeln sammeln, von der Schule, von Kinderstreichen mit ihren Geschwistern, vom Nikolaus, der zu ihnen ins Haus kam und den sie als Kinder gespannt und ängstlich erwarteten. Sie erzählte aber auch vom Krieg und den Bombennächten, erzählte von Überschwemmungen im Frühjahr und vom nahegelegenen Teich, der im Winter zugefroren war. Es waren nicht nur schöne, romantische Geschichten, sondern auch fromme Geschichten. In denen erzählte sie auch von ihrem Glauben und die Erfahrung, gemeinsam zu Hause zu beten oder die Maiandachten daheim zu halten, für die sie die Blumen aus dem Garten pflückte. Aber auch von Opa, der schwer erkrankte und zu früh starb, erzählt sie. Bei allem war sie eine gute Erzählerin. „Oma erzähl doch mal von früher.“ Ich bin heute dankbar, das alles erleben zu dürfen, weil das Erzählen, das Hören und Zuhören gut tut. Es ist für mich kein romantisches Zurücklehnen, sondern die Einladung als Familie und Freunde, auch heute eine Erzählgemeinschaft zu sein. Früher war mancher Stammtisch auch so ein Ort, heute ist es für uns in der Gemeinde der Kreis der „Frühstückfrauen“. Er trifft sich, wenn nicht Corona ausbremst, auch zum Erzählen – nicht nur von früher. Als Klostergemeinschaft ist für uns der Sonntagabend, die Rekreation, so ein Ort auch zum Erzählen – von früher, von Gott und der Welt. Es ist oft ein Gang in unsere Geschichte, in die des Ordens, der Heimat, der Welt, mit allen Höhen und Tiefen.

Meine Mutter erzählt immer noch gut und gerne und hat vor Jahren angefangen, mit über 90 Jahren, Erlebnisse von und mit der Familie aufzuschreiben. Es wird keine große Biografie, aber wir Kinder hoffen, eines Tages das Werk in Händen zu halten, erst recht wenn sie nicht mehr lebt und nicht mehr von früher erzählen kann. Das alles ist dann ein Segen.
 
Pater Josef kleine Bornhorst, Dominikanerkloster Leipzig