Über 9000 Menschen in Deutschland scheiden jährlich freiwillig aus dem Leben

„Es geht um existenzielle Krisen“

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Durch Suizid kommen mehr Menschen ums Leben als durch Morde, harte Drogen und Aids zusammen: Über 9000 Männer, Frauen und selten auch Kinder scheiden jährlich in Deutschland freiwillig aus dem Leben. Der Verein für Suizidprävention will Menschen, die mit dem Gedanken an eine Selbsttötung spielen, dazu bringen, ihre Absicht zu überdenken.


Wenn die Probleme über den Kopf wachsen, sieht mancher in der Selbsttötung die einzige Lösung. Der Verein für Suizidprävention will mit seinem Krisentelefon Menschen dazu bringen, ihre Absicht zu überdenken.

„Krisentelefon, guten Abend“ – Wer zwischen 18 und 22 Uhr die Hildesheimer Telefonnummer 5 88 28 wählt, wird so begrüßt – und darf sich dann alles von der Seele reden: Sorgen, Nöte, Ärger, Stress, Suizidgedanken.

Rund 30 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wechseln sich 365 Tage im Jahr ab und stehen allabendlich für Gespräche zur Verfügung. Es sind kaufmännische Angestellte, Lehrer, Polizisten, Ingenieure, Juristen, Softwareentwickler und viele andere, die sich in ihrer Freizeit dieser Aufgabe widmen. Alle haben eine neunmonatige Ausbildung absolviert und bei erfahrenen Beratern hospitiert. Viele von ihnen haben selbst Erfahrungen mit einer Selbsttötung in ihrem persönlichen Umfeld, sei es in der Familie oder in der Bekanntschaft.

Raum geben, um Probleme auszusprechen

Einer von ihnen ist Hans-Jürgen Giesel, der stellvertretende Vorsitzende des Vereins. „Unser Ziel ist es, die Menschen von ihrem Suizid-Gedanken abzubringen, sie zum Überlegen zu bringen“, sagt er. Und dabei geht es zunächst einmal um eins: zuhören.

„Wir wollen einen Raum geben, alles auszusprechen, was den Anrufer bedrückt, tabulos und vor allem ohne Wertung“, sagt der Vereinsvorsitzende Lars Kühn. Damit das gelingt, finden die Gespräche anonym statt. Die Rufnummer der Anrufenden wird unter­drückt, auch die Berater bleiben ohne Namen.

Lösen können die ehrenamtlichen Mitarbeiter die Probleme der Anrufer zumeist nicht, aber sie können den Menschen in „Krisen und Nöten beistehen“, wie es die Satzung des Vereins beschreibt. In den Gesprächen geht es darum, Menschen in Not zu stabilisieren, ihren Blick zu weiten. „Ich frage die Anrufer zum Beispiel danach, ob es nicht auch gute Dinge in ihrem Leben gibt. Es geht darum, dass sie ihre Ressourcen erkennen und Probleme von unterschiedlichen Seiten betrachten“, sagt der Vereinsvorsitzende, der selbst immer wieder am Krisentelefon sitzt. Manchmal helfe es auch, den Ratsuchenden zu vermitteln, dass Krisen Teil des Lebens sind und auch andere Menschen Probleme haben.

Anrufe kommen oft von weit her

Die Gespräche dauern oft lange, mitunter eine Stunde. Dann drängen die Berater auf ein Ende, damit auch andere Anrufer die Chance haben, durchzukommen, denn es gibt nur eine Leitung. Auf der werden im Jahr 1500 bis 1800 Anrufe entgegengenommen. Dabei kommen die Anrufe nicht nur aus Hildesheim und Umgebung, sondern aus dem ganzen Bundesgebiet und dem gesamten deutschsprachigen Raum.
 


Hans-Jürgen Giesel und Jürgen Hoffmann engagieren sich im Verein für Suizidprävention.

Können Telefongespräche Menschen mit Suizidgedanken wirklich helfen? Mancher dankt den Beratern am Ende eines Telefonats und sagt, dass es ihm jetzt besser gehe, aber: „Wir müssen damit leben, dass wir nicht wissen, ob wir die Person dauerhaft von ihrem Vorhaben abbringen können“, sagt Christiane Grabow, eine der ehrenamtlichen Beraterinnen. „Viele tragen das lange in sich, ein Suizid baut sich auf“, erläutert sie.

Akute Fälle sind die Ausnahme

Nur äußerst selten kommt es vor, dass ein Anrufer erklärt, er wolle sich gleich mit dem Tapetenmesser die Pulsadern aufschneiden oder aus dem siebten Stock seines Hauses stürzen. Das ist dann für die Berater besonders belastend. Konkrete Hilfe durch Polizei oder Feuerwehr können sie allerdings nur organisieren, sofern der Anrufer selbst seine Anonymität aufgibt und damit einverstanden ist.  

Apropos Belastung: Die Berater selbst nehmen regelmäßig an Supervisionen teil, um ihre Erfahrungen zu besprechen und die Gespräche zu verarbeiten.

Den Verein für Suizidprävention gibt es bereits seit 1977, zu Gründungszeiten firmierte er noch als Verein für „Selbstmordverhütung“, wie Jürgen Hoffmann, Leiter der Vereins-Geschäftsstelle, erzählt. Menschen mit Suizidgedanken galten damals als „amoralische Leute“. Das hat sich mittlerweile geändert. „Wenn Menschen an Selbsttötung denken, geht es immer um existenzielle Krisen“, sagt er.

Um es möglichst gar nicht so weit kommen zu lassen, engagiert sich der Verein in der Präventionsarbeit an Schulen und für Multiplikatoren. Auch Jugendliche kommen in schwere Krisen. Die Stärkung von Jungen und Mädchen und der Aufbau ihrer Widerstandsfähigkeit ist das Ziel des Projektes. In Zusammenarbeit mit der Fachschaft Psychologie an der Universität Hildesheim hat der Verein zudem ein anonymes Zuhörtelefon eingerichtet, das täglich vor- und nachmittags zwei Stunden für jede Art von Gesprächen zur Verfügung steht. Da muss es nicht gleich um lebensbedrohliche Krisen gehen, sondern es können auch Alltagsprobleme zur Sprache kommen.

Ein weiteres Projekt des Vereins ist die Trauerbegleitung. In Trauergesprächen sowohl in Gruppen als auch einzeln werden Menschen in ihrer Trauerarbeit unterstützt – vor allem solche, die Angehörige oder Freunde durch einen Suizid verloren haben. „Wer ihr unfassbares Leid sieht, wird alles daransetzen, künftige Suizide zu vermeiden“, sagt Jürgen Hoffmann.

Matthias Bode
 

Mitarbeiter gesucht
Der Verein für Suizidprävention sucht weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die telefonische Beratung von Menschen mit Suizidgedanken. Dazu sind keine Vorkenntnisse nötig, Interessenten durchlaufen innerhalb eines Dreivierteljahres eine 90-stündige Ausbildung und hospitieren bei erfahrenen Beratern.
Das Krisentelefon ist unter der Rufnummer 0 51 21 / 5 88 28 täglich zwischen 18 und 22 Uhr zu erreichen, das Zuhörtelefon unter 51 62 88 von 10 bis 12 und von 16 bis 18 Uhr, die Geschäftsstelle unter 51 62 86.

www.suizidpraevention-hildesheim.de