Kolumbien
„Es gibt Alternativen zum Drogenhandel und zur Gewalt“
Foto: Juan Manuel Peñaña
Frau Purrer, für uns ist Kolumbien weit weg, wir wissen wenig über das Land. Deshalb zuerst die Frage: Wie ist dort zurzeit die politische Situation?
Tatsächlich wissen in Deutschland viele, dass hier 2016 ein Friedensvertrag geschlossen wurde zwischen der Regierung Kolumbiens und den FARC-Rebellen. Was viele nicht wissen: Der Vertrag bedeutet nicht, dass tatsächlich schon Frieden herrscht. Es gibt in Kolumbien immer noch einen Wust aus illegalen bewaffneten Truppen, die um die Vormacht kämpfen. Dabei geht es meist ums Drogengeschäft. Teilweise sind diese Gruppen auch verquickt mit der Polizei und dem Militär.
Was macht die aktuelle Regierung dagegen?
Sie bemüht sich, wird aber immer wieder vom Kongress ausgebremst. Die Mitte-Links-Regierung unter Präsident Gustavo Petro ist vor einem Jahr mit einem ambitionierten Reformprogramm angetreten. Gesundheit, Bildung, Renten: Damit hat Petro 2022 die Wahl gewonnen und auch schon Vorschläge zur Umsetzung gemacht. Aber der Kongress blockiert die Reformen und die Leute werden ungeduldig. Gerade heute zum Beispiel gehe ich mit unseren Jugendlichen auf eine große Demo, und die ist nicht – wie sonst oft üblich – gegen die Regierung gerichtet, sondern will Gustavo Petro den Rücken stärken.
Sie arbeiten in Tumaco. Wie können wir uns das Leben dort vorstellen?
Kolumbien ist sehr zentralisiert, vor allem auf die Hauptstadt Bogota. Tumaco mit seinen immerhin 120 000 Einwohnern, liegt ganz im Südwesten des Landes am Meer und nahe der Grenze zu Ecuador. Weiter weg als wir kann man kaum sein. Zu uns führt nur eine einzige Straße, ansonsten gibt es viele Mangrovenwälder und Flüsse, auf denen kleine Boote unterwegs sind. Die Region ist regelrecht abgehängt. Auch die Gesundheitsversorgung ist schlecht; bei uns stirbt man an ganz simplen Dingen – zum Beispiel Schwangere, wenn ein Kind in Beckenendlage liegt und es zu Komplikationen kommt. Es gibt hier oft keinen Strom, sehr schlechten Handyempfang und die Schulen haben ein sehr niedriges Niveau. Hungern muss niemand, es gibt genügend Fisch im Meer, und Kochbananen, die hier ein Grundnahrungsmittel sind, wachsen überall. Aber das ist auch schon alles. Die Arbeitslosigkeit beträgt 70 Prozent.
Welche Folgen hat das?
Vor allem hat das zur Folge, dass das Drogengeschäft blüht, sowohl der Anbau als auch die Drogenlabore und der Handel. Viele Leute sehen es als einzige Chance, überhaupt Geld zu verdienen. Die Koka-Pflanzen wachsen ja quasi von allein und können dreimal im Jahr geerntet werden. Und da wir so abseits liegen, ist das hier quasi ein staatsfreier Raum. Da kommen die Drogenbarone richtig zum Zug.
Und gerade da steht Ihr Jugendzentrum.
Ja, mitten im Nuevo Milenio. Das ist ein Armenviertel in Tumaco, das zwischen 1999 und 2001 quasi von selbst entstanden ist. Damals sind sehr viele Menschen vom Land in die Stadt gezogen, weil sie sich hier Arbeit, Gesundheitsversorgung und Bildung für ihre Kinder, vor allem aber Sicherheit erhofft haben. Sie haben einen Teil der Mangrovenwälder gerodet und aus dem Holz einfache Hütten gebaut. Auf Stelzen – unter uns geht täglich zweimal Ebbe und Flut durch.
Sie leben dort auch?
Ja, genau wie alle anderen in einer Hütte ohne fließendes Wasser, mit lauter Musik von überallher – wenn nicht wie so oft der Strom ausfällt – und so eng nebeneinander, dass wir wirklich alles voneinander mitbekommen. Ich bin Teil der Dorfgemeinschaft, 24 Stunden am Tag, denn auch wenn in diesem Viertel fast 10 000 Menschen leben, ist es doch ein Dorf geblieben.
Zurück zum Jugendzentrum: Ist das auch ein Stelzenhaus aus Mangrovenholz?
Nein, es hat tatsächlich vier gemauerte Wände. Ein großer Raum, ungefähr 15 mal 10 Meter groß und für alle offen.
Seit wann gibt es das Jugendzentrum? Und warum?
Gegründet wurde es 2011 von den Comboni-Missionaren, das ist eine ursprünglich italienische Ordensgemeinschaft, die es inzwischen weltweit gibt. Sie kamen nach Tumaco, um eine katholische Pfarrei zu betreuen, aber zwei der Patres zogen ins Nuevo Milenio, um hier mit den Menschen zu leben. Nach einiger Zeit haben sie sich gefragt, was hier eigentlich am meisten fehlt, und sie haben erkannt: Es fehlt ein Ort, an dem junge Menschen sinnvoll ihre Zeit verbringen können. Deshalb bauten sie das Jugendzentrum Centro Afro. Ich finde das übrigens bemerkenswert: dass sie keine Kapelle bauten, um zu beten, sondern ein Jugendzentrum, um miteinander aktiv zu werden – wobei im Jugendzentrum sonntags auch Messe gefeiert wird.
Und wie sind Sie selbst dazu gekommen?
Die kurze Geschichte ist: ein Jahr nach Gründung durch eine Stellenanzeige, auf die ich mich beworben habe.
Und die lange Geschichte?
Ich komme aus der DDR, 1989 war ich zwölf Jahre alt. Ich habe damals erlebt, was die Kirchen und Christen zur friedlichen Revolution beigetragen haben. Schwerter zu Pflugscharen, Montagsgebete – das hat mich beeindruckt. Im Rahmen meines Theologiestudiums war ich dann längere Zeit in El Salvador und war wieder beeindruckt, von der Theologie der Befreiung, von der Rolle der Kirche im Friedensprozess, von Menschen wie Oscar Romero. Und ich dachte: Bei dieser kirchlichen Friedensarbeit will ich mitmachen.
Wie tun Sie das konkret: am Frieden mitarbeiten?
Indem wir den Kindern und Jugendlichen im Centro Afro zeigen, dass es Alternativen gibt zum Drogenhandel und zur alltäglichen Gewalt. Dass es für Frauen mehr gibt, als früh Mutter zu werden. Dass es möglich ist, Abitur zu machen, eine Universität zu besuchen und eine gute Arbeit zu finden – auch für afrokolumbianische Kinder aus Tumaco. Und indem wir ihnen ermöglichen, sich in einer sicheren Umgebung auszuleben, ihre Interessen zu entdecken und entfalten. Und nicht zuletzt: indem sie erleben, wie gewaltfreie Mitbestimmung funktioniert – an sich ist Kolumbien nämlich extrem hierarchisch organisiert.
Mal noch konkreter: Was ist unter der Woche im Jugendzentrum los?
Viel, vor allem nachmittags, denn wir legen Wert darauf, dass die Kinder und Jugendlichen morgens die Schule besuchen. Nachmittags gibt es dann die verschiedensten Gruppen. Zum Beispiel Tanzgruppen, in denen Mädchen zu traditioneller Trommelmusik tanzen. Das ist einerseits superwichtig für das Lebensgefühl hier, aber auch für ihre Körpersprache, ihr Körperbewusstsein, ihr Selbstbewusstsein gegenüber Männern. Es gibt unsere Hip-Hopper, die sich ein kleines Tonstudio eingerichtet haben. Sie schreiben Texte über Menschenrechte, Widerstand, aber auch die Liebe zu ihrer Region, die nicht nur gewalttätig, sondern auch wunderschön ist. Und dann haben wir die Zirkusgruppe vor allem mit Jungs von 12 bis 15, die früher unsere Sorgenkinder waren. Jetzt können sie sich auspowern und ihre überschüssige Energie loswerden mit Akrobatik, Jonglage, Stelzenlauf. Sie sind wirklich eine Inspiration für andere. Unsere offene Jugendgruppe diskutiert viel, auch über Politik, und engagiert sich in sozialen Projekten. Und außerdem führen wir miteinander eine kleine Gemeindebibliothek und einen Lebensmittelkiosk, in dem die Jugendlichen selbst die Grundkosten des Zentrums miterwirtschaften.
Sie haben Mitbestimmung erwähnt: Wie funktioniert das?
Am Anfang wurde das Centro sehr von oben, also auch von mir, geleitet. Aber wir haben schnell gemerkt, dass diese Art der Betreuung nicht nachhaltig ist. Inzwischen arbeiten zwei afrokolumbianische Frauen gleichberechtigt in der Leitung mit, und wir haben zusätzlich einen Jugendausschuss, in den jede Gruppe zwei Vertreter entsendet. Mit denen treffen wir uns regelmäßig und entscheiden gemeinsam alles Wichtige. Das ist eine Form der Basisdemokratie, die hier unüblich ist. Sie kostet zugegeben viel Zeit und Kraft, weil alles immer neu ausgehandelt werden muss. Aber wenn jemand erlebt, dass seine Stimme genauso zählt wie meine, dann wird das auch für das weitere Leben fruchtbar sein.
Wie katholisch ist Ihre Arbeit eigentlich?
Als Erstes ist mir wichtig: Alle dürfen zu uns kommen – und es kommen auch alle, zum Beispiel auch Kinder aus evangelikalen Familien, die auch hier immer mehr werden. Das Zweite: Es gibt auch spezifisch religiöse Angebote – die Sonntagsmesse zum Beispiel, die Sakramentenkatechese oder die großen kirchliche Feste. Das Dritte: Dass wir ein katholisches Jugendzentrum sind, ist wichtig für unseren Schutz, auch für meinen eigenen.
Wie meinen Sie das?
Es gibt hier viele bewaffnete Gruppen und Drogenkartelle – und die respektieren die Kirche. Wenn Jugend- und Friedensarbeit unter dem Dach der Kirche stattfindet, wird das normalerweise nicht infrage gestellt.
Warum ist das so?
Zum einen, weil die Kirche hier eben einfach noch respektiert wird. Ich denke aber, auch deshalb, weil wir hier sind und hier bleiben, weil wir das einfache Leben der Menschen teilen. In den politisch schwierigsten Zeiten, als sich alle ausländischen Player zurückgezogen haben, sind die (inter-)nationalen NGOs nur noch über uns und die Comboni-Missionare überhaupt hier reingekommen. Oder in der Corona-Zeit. Die Deutsche Botschaft schrieb mich an und wollte mich ins letzte Flugzeug nach Deutschland setzen, aber ich habe gesagt: Gerade jetzt bleibe ich!
Gibt es Erfolge in Ihrer Arbeit?
Ach, Erfolg ist ein großes Wort … Ja, wir freuen uns natürlich riesig, dass es unsere Jugendlichen immer öfter schaffen, zu studieren oder einen guten Job zu finden – das motiviert uns und die Kinder, die heute ins Centro kommen. Wir erleben auch, dass unsere Art zu glauben für die Jugendlichen wichtig ist, dass Jesus für sie ein Modell ist. Dass Jesus sich mit Fischern und Prostituierten umgeben hat – das ist nah dran an der Lebenswirklichkeit unserer Jugendlichen. Dass sie von Gott bedingungslos geliebt werden – das erlebt in der Familie nun wirklich nicht jeder. Dass es Wichtigeres gibt als den Flachbildschirm, das Motorrad und das tolle Handy – wie der Kapitalismus ihnen das vorgaukelt. Ja, ich denke, unsere Arbeit hier gibt den Kindern und Jugendlichen Orientierung in einer Welt, in der die Eltern vielleicht im Drogengeschäft arbeiten und die kleine Schwester in der Prostitution. Aber unsere Arbeit hat natürlich auch Grenzen.
Frau Purrer, sehen Sie Tumaco und das Jugendzentrum als Ihre persönliche Berufung?
Ja, ich bin hier wirklich mit ganzem Herzen im Einsatz. Aber ich sehe auch die Begrenztheit meines Tuns. Wenn ich am Grab eines Jugendlichen stehe, der erschossen wurde – Schießereien gibt es hier regelmäßig –, dann werde ich sehr demütig. Und außerdem sehe ich eines ganz klar: Ich habe mich bewusst für die Option für die Armen entschieden, aber wenn ich wollte, könnte ich jederzeit nach Deutschland zurückkehren. Dieses Privileg haben die Menschen hier nicht. Die Armen haben keine Option.